Es gibt Blicke, die nur einen Augenblick dauern und doch alles verändern. Ein Blick, der tief berührt. Eine Verbindung, die ganz ohne Worte entsteht. In der japanischen Kultur gibt es dafür ein Wort: Nen ↗.
Nen ist die kleinste, bewusst lenkbare Einheit der Aufmerksamkeit. Es ist jener Moment, in dem du vollkommen präsent bist – bei dem, was du tust, oder dem Menschen, dem du begegnest. Es ist mehr als bloße Konzentration; es ist reine, gerichtete und spürbare Präsenz.

Im Zen ist Nen essenziell. Du schärfst dein Nen durch Meditation, aber auch bei allem, was du mit Aufmerksamkeit machst: Teetrinken, ein Gespräch führen, eine E-Mail schreiben oder eine Linie zeichnen. Die Menge an Nen, die du in etwas investierst, bestimmt die Qualität und oft auch die Schönheit dessen, was du machst. Alle echten Spitzenprofis haben ein ausgeprägtes Nen in ihrem Fachgebiet. Man schmeckt, ob der Koch mit seiner Aufmerksamkeit bei der Sache war.
Meditation als Quelle für Nen
Meditieren ist der Weg, um dein Nen zu entwickeln. Während der Meditation verarbeitest du alte Bubbles ↗: unverarbeitete Gedanken, Emotionen und Erfahrungen, die unter der Oberfläche brodeln. Je mehr dieser Bubbles du auflöst, desto weniger Ablenkung erfährst du und desto schärfer wird dein Nen: Deine Aufmerksamkeit wird klarer, deine Präsenz stärker.
Umgekehrt funktioniert es auch: Indem du im Alltag alles mit Aufmerksamkeit machst, verhinderst du, dass neue Bubbles entstehen. Das heißt, dein Geist bleibt klar und dein Nen nimmt weiter zu. So wirkt es in beiden Richtungen: Meditation räumt alte Bubbles auf, und achtsames Handeln im Alltag verhindert, dass neue entstehen.
Hochsensibilität und Nen
Viele Leute erkennen sich in dem Begriff Hochsensibilität wieder. Sie fühlen sich schnell überwältigt von Hektik, starken Emotionen oder subtilen Signalen aus ihrer Umgebung. Sie hören Nuancen in der Stimmlage, schmecken kleine Unterschiede im Geschmack oder sind tief von Kunst berührt, und das oft alles an einem Tag. Diese Sensibilität ist keine Schwäche, sondern eine Eigenschaft, die – wenn sie richtig verstanden wird – eine große Stärke sein kann. Und hier kommt Nen ins Spiel.
Während Hochsensibilität eine erhöhte Empfänglichkeit des Nervensystems beschreibt, ist Nen die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit bewusst und rein auszurichten. Nen ist somit keine passive Eigenschaft, sondern eine aktive Fertigkeit: die Kunst, im entscheidenden Moment genau das Richtige wahrzunehmen, ohne sich davon überwältigen zu lassen.
Ein hochsensibler Mensch nimmt viel wahr, kann aber durch diese Intensität auch schneller überreizt werden. Jemand mit einem gut entwickelten Nen kann dagegen seine Aufmerksamkeit lenken, dosieren und bewusst ausrichten. Genau dadurch kann Nen helfen, mit Hochsensibilität umzugehen, indem man klarer spürt, was von einem selbst kommt und was vom anderen, und indem man in Situationen, die sonst zu viel wären, ruhiger bleibt.
Das Zentraining hilft dabei in zweierlei Hinsicht: Es hilft, alte Bubbles zu verarbeiten und verhindert, dass neue entstehen. Dadurch kannst du immer frischer, klarer und mit mehr Nen im Moment präsent sein.
Die Kunst des achtsamen Lebens
Auch in menschlichen Beziehungen ist Nen spürbar. Jemanden wirklich sehen und wirklich zuhören – das ist seltener, als wir denken. Dennoch erkennen wir es sofort, wenn es geschieht. In einem Dialog mit Nen verstummt das Rauschen, es entstehen Klarheit und Verbundenheit
Zen-Meister Karlfried Dürckheim sprach vom „Alltag als Übung“. Jeder Augenblick wird so zu einer Gelegenheit, unsere Aufmerksamkeit zu verfeinern. Die Teezeremonie, das Abwaschen, ein Gespräch zu Tisch – all das sind Gelegenheiten, unser Nen zu schärfen. Mein Hobby, das Töpfern, wurde für mich jahrelang zu einer Übung in Nen: Mit selbstgemachter Glasur, selbst gespaltenem Holz für den Töpferofen und jahrelanger Hingabe entstand schließlich jene eine Teeschale, in der alles zusammenkam. Eine Schale mit so viel reiner Aufmerksamkeit, dass man sie fühlen und vielleicht sogar sehen kann (siehe Foto). Das Nen-Training lehrt dich, in Sekundenbruchteilen zu denken, was du denken willst, und das macht dich glücklich und die Welt um dich herum schöner. Denn Menschen spüren den Unterschied, egal ob du ein Kind erziehst, ein Auto wäschst oder eine Tasse Tee anbietest.
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Rients Ran Zen
Zen-Meister und Gründer von Zen.nl
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