Einer meiner Ziele ist es, nur das zu besitzen, was ich wirklich brauche, und von allen Dingen, die ich besitze, zu wissen, wo sie sind. Ich erreiche dieses Ziel nie ganz, aber es hilft mir, kritisch zu prüfen, ob ich wirklich brauche, was ich kaufen will, und zu hinterfragen, ob ich die Dinge, die ich schon habe, noch benötige.

In einer Schublade im Flur liegen Spikes, die ich mir vor vielen Jahren in einem strengen Winter gekauft habe, um mich beim Glatteis sicher über die Straße zu bringen. Weil die Winter in den vergangenen Jahren eher mild waren, liegen sie schon lange unbenutzt in der Schublade. Ich behalte sie jedoch, denn wenn es mal wieder Glatteis gibt, würde ich sie sehr vermissen. Gleichzeitig sammeln sich in meiner Wohnung aber auch Dinge an, die ich wirklich nie mehr benutzen werde: Kleider, die mir nicht mehr passen, oder alte Geräte, für die ich einst viel Geld ausgegeben habe, die ich jetzt aber nicht mehr nutze. Es lässt sich kaum verhindern, dass sich in der eigenen Wohnung Dinge ansammeln, die man nicht direkt benötigt. Wenn es jedoch zu viele werden, wird es schwierig, Ordnung zu halten.
Vom Keller in den Kopf: Der Ballast, den wir mit uns tragen
Nicht nur in unserer Wohnung sammeln sich obsolete Dinge an. Auch in unseren Köpfen schleppen wir einiges mit uns herum, was einst nützlich war, uns heute aber nur noch belastet: Verhaltensweisen, mit denen wir früher punkten konnten, die jetzt aber vielleicht seltsam wirken. Einst berechtigte Sorgen, die uns immer noch den Schlaf rauben, obwohl der Grund dafür längst verschwunden ist.
Am Anfang meines Studiums bereitete ich jedes Seminar penibel vor. Ich las die Texte nicht nur zur Vorbereitung, sondern arbeitete sie danach mit den Anmerkungen des Dozenten noch einmal durch. Vor der Prüfung ging ich alles ein weiteres Mal durch. Im ersten Jahr verhalf mir dieses Verhalten zu guten Noten, und ich genoss den Erfolg. In den nächsten Jahren wuchs der Stoff, den wir durcharbeiten mussten, und mir blieb keine Zeit mehr, alles dreimal zu lesen. Was mir anfangs gute Noten beschert hatte, verlangsamte mich so sehr, dass ich nicht mehr hinterherkam. Es dauerte lange, bis mir klar wurde, dass ich meine Arbeitsweise ändern musste.
Wir neigen dazu, an Methoden festzuhalten, die einst erfolgreich waren, auch wenn sie das nicht mehr sind. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Mann aus der berühmten buddhistischen Parabel, der ein Floß baut, um sicher an das andere Ufer eines gefährlichen Flusses zu gelangen. Am anderen Ufer angekommen, legt er das Floß jedoch nicht ab, sondern schleppt es mit sich durch den Wald.
Auch ich schleppte jahrelang ein Perfektionismus-Floß mit mir herum, das mir gut durch das erste Studienjahr geholfen hatte, mir jedoch nach einer gewissen Zeit zur Last wurde. In den weiteren Studienjahren brauchte ich ein anderes Floß: das Selbstvertrauen, dass einmal lesen reicht, um den Stoff zu verstehen. Es ist ganz natürlich, ein paar Flöße mit sich herumzutragen, die man wie meine Spikes im Augenblick nicht nutzt. Nur wenn es zu viele werden, wird das Leben schwerfällig und man kommt kaum voran.
Zazen: Das Floß für einen Moment ablegen
In unserem Zen-Kurs stellten wir uns die Frage, welche Flöße wir eigentlich unnötig mit uns schleppen. Einige Teilnehmende erkannten ihre Flöße sofort. Andere sahen vor allem die Flöße, die ihre Mitmenschen mit sich herumtragen. Und wieder andere erkannten zwar ihre Flöße, wollten sie im Moment jedoch nicht loslassen. Und das ist in jedem Fall völlig in Ordnung.
In der Sitzmeditation (Zazen ↗) verlagern wir unsere Aufmerksamkeit von den Gedanken auf die Atmung. Das schafft den nötigen Abstand, der es uns ermöglicht, aufkommende Gedanken unbewertet zu beobachten und so unsere Flöße zu erkennen. Ein Floß ist ein praktisches Werkzeug, aber auch Ballast. Legen wir es ab, oder nicht? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir uns des Floßes erst einmal bewusst sind. Im Zazen können wir die Flöße auf jeden Fall für kurze Zeit ablegen und spüren, wie sich das anfühlt. Das ist wohl der Grund, warum viele Meditierende berichten, dass die Meditation ihnen Energie gibt. Das Leben wird leichter, wenn man seine Flöße loslässt, auch wenn es nur für kurze Zeit ist.
Die Parabel vom Floß stammt direkt aus den Lehren des Buddhas. Er bezeichnete seine eigene Lehre – das, was wir heute Buddhismus nennen – als ein solches Floß. Es soll uns helfen, das zu verwirklichen, was der Buddhismus „Erleuchtung“ nennt: ein Leben in Achtsamkeit und Freiheit. Seine Lehre ist eine Aufforderung, nicht krampfhaft daran festzuhalten, sondern sie auch wieder loszulassen, wenn wir sicher am anderen Ufer angekommen sind.
Der Buddhismus hat im Laufe seiner Entwicklung viele Flüsse durchquert und den Menschen immer wieder neue Flöße gebaut. Der Zen-Buddhismus, den wir bei Zen-Meditation Berlin praktizieren, hat sich dabei der reichen chinesischen und japanischen spirituellen Traditionen bedient. Jetzt, wo der Zen-Buddhismus in Europa angekommen ist, bauen wir wieder neue, zeitgemäße Flöße für die Menschen von heute. Inspiriert durch jahrhundertealte Traditionen passen wir unsere Praxis an, damit sie lebendig bleibt und uns hilft, auf unserem Weg ein Ufer weiterzukommen. Für mich ist Zen-Meditation Berlin das Floß, das ich zusammen mit den Kursteilnehmern baue – ein Zen-Weg, der zu uns und unserer Zeit passt.
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Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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