Die Welt hinter meinen Vorstellungen

Ein zentrales Konzept des Zen-Buddhismus ist das „Im-Moment-Sein“ – ein Zustand innerer Ruhe und Achtsamkeit, in dem du nicht über die Vergangenheit grübelst oder mit Sorge auf die Zukunft blickst. Ein solcher Zustand klingt erstrebenswert und soll durch Meditation und Achtsamkeitsübungen erreichbar sein.

Doch ich stehe solchen theoretischen Konzepten skeptisch gegenüber. Im Zen geht es nicht darum, an eine Idee zu glauben, sondern den Moment selbst zu erfahren. Deshalb beschloss ich während einer intensiven Zen-Woche (Sesshin ↗), diesem Konzept auf den Grund zu gehen – nicht als Theorie, sondern als gelebte Erfahrung.

Symbolbild für die Wahrnehmung im Moment: Ein sanfter, unscharfer Sonnenaufgang symbolisiert die Welt jenseits von Bewertungen.

Was bedeutet es, im Moment zu sein?

Es ist der frühe Morgen des ersten Tages einer intensiven Zen-Woche, in der wir täglich etwa acht Stunden sitzend meditieren. Ich stehe auf der Wiese hinter dem Hotel, in dem das Event stattfindet, und lasse meine Gedanken über das Im-Moment-Sein kreisen. Wann ist man wirklich im Moment? Wie fühlt sich das an?

Auf der anderen Seite der Wiese taucht die Sonne wie ein orangefarbener Feuerball hinter den Bäumen auf. Wunderschön, denke ich. Doch sofort wird mir bewusst: Um etwas als schön zu empfinden, brauche ich eine Vorstellung von nicht-schön – denn so funktioniert unser Denken. Aber bin ich im Moment, wenn ich das, was ich sehe, gedanklich bewerte?

Immer wieder zurück zur Atmung

Ich nehme mir vor, mich in dieser Woche darin zu üben, meine Umgebung nicht zu bewerten. Selbst in den Pausen, wenn ich durch den Wald spaziere oder die Schafe auf der Wiese beobachte, möchte ich konzentriert bleiben und meine Wahrnehmungen nicht gedanklich kommentieren. Doch es ist eine Herausforderung. Den bunten Herbstwald nicht als faszinierend zu bezeichnen, fällt mir schwer, und oft gelingt es mir nicht. Jedes Mal, wenn ich merke, dass ich abschweife, lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Atem – wie in der Sitzmeditation (Zazen ).

Im Laufe der Woche fällt es mir immer leichter. Als ich aus dem Meditationsraum blicke, sehe ich, wie die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen durch die Bäume wirft. Ich empfinde Freude, nicht weil ich den Anblick als „schön“ bewerte, sondern weil ich mich als Teil dessen fühle, was ich wahrnehme.

Erleuchtung im Gewerbegebiet

Die Zen-Woche ist vorbei. Mit meinem Rollkoffer laufe ich auf dem Weg zum Bahnhof durch ein Gewerbegebiet. Hier zeigt sich die niederländische Kleinstadt von einer deutlich weniger idyllischen Seite. Vor mir liegt eine große Molkerei. Lkws bringen Milch von den umliegenden Bauernhöfen, Maschinen dröhnen, Beton dominiert die Szenerie.

Als ich die Straße überqueren will, höre ich das Grollen eines herannahenden Lastwagens. Ich blicke auf und sehe den riesigen Wagen auf mich zukommen. Angst steigt in mir auf – tote Winkel, abbiegende Lkws, mögliche Unfälle. Ich bin plötzlich ganz wach.

Doch dann sehe ich den Fahrer. Er winkt mir freundlich zu. Alles in Ordnung, er hat mich gesehen. Meine Angst löst sich auf und weicht einem Gefühl der Freude. Ein fremder Mensch hat meine Verletzlichkeit wahrgenommen und mich mit einer einfachen Geste beruhigt.

Während ich den Lastwagen nachschaue, wird mir klar, warum es sich lohnt, das Im-Moment-Sein zu üben: Freude ist nicht nur in spektakulären Sonnenaufgängen oder malerischen Herbstwäldern zu finden. Sie zeigt sich auch hier, in einem Gewerbegebiet – mitten in der Angst, mitten im Alltag.

Die Welt hinter schön und unschön

Als Mensch bewerte ich ständig meine Umgebung und habe klare Vorstellungen davon, was mir guttut und was nicht. Doch jenseits dieser Bewertungen existiert eine Welt, die einfach nur ist – ohne Kategorien wie „gut“ oder „schlecht“. Diese Welt hinter meinen Vorstellungen, die Welt jenseits von schön und unschön, ist keine Theorie. Ich habe sie für kurze Momente erleben dürfen: in den Sonnenstrahlen, die die Abendsonne durch den Wald warf, und in einer freundlichen Geste eines Lkw-Fahrers.

In dieser Zen-Woche habe ich versucht, mich dieser Welt anzunähern und war überrascht, welche Freude es bringt, sich nicht als Betrachter, sondern als Teil dessen zu empfinden. Gute und schlechte Gefühle wechseln sich ab, steuern meine Reaktionen, lassen mich entweder entspannen oder anspannen. Doch diese dualistische Sichtweise wie „Wald schön, Gewerbegebiet nicht schön“ verschließt den Zugang zu einer tieferen Erfahrung. Jenseits unserer Konzepte liegt eine Realität, die reicher und umfassender ist, als unser Denken sie erfassen kann.

Genau darin liegt für mich der Kern von nachhaltigem Glück: die Fähigkeit, auch inmitten des Alltags echte Freude zu erfahren, unabhängig von den äußeren Umständen. Die Zen-Meditation hilft uns, diese Fähigkeit zu entwickeln.

Bahnchaos

Diese Erkenntnisse prägten meinen Morgen – bevor, ich wusste, dass mich der Tag in ein Bahnchaos führen würde. In diesem Artikel schreibe ich darüber, wie ich mich am selben Tag inmitten von Verspätungen, vollen Zügen und unvorhergesehenen Umwegen wiederfand – und wie es dennoch möglich ist, selbst in diesem Chaos Momente der Freude zu entdecken.

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Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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