Homo Ritualis
Überall, wo es Menschen gibt, gibt es Rituale. In jeder Kultur, in jeder Menschengruppe und zu allen Zeiten. Von den in tiefer Dunkelheit zelebrierten Ritualen, die uns in den Höhlenmalereien von Lascaux und Chauvet überliefert sind, bis hin zu den modernen, weltweiten Silvesterfeiern. Der Mensch scheint eine angeborene Neigung zu haben, durch strukturierte, symbolische Handlungen Bedeutung zu schaffen, Übergänge zu markieren und uns miteinander und mit dem Ungreifbaren zu verbinden. Auch in den Kursen von Zen-Meditation Berlin spielen Rituale eine wichtige Rolle. Sie schaffen einen Rahmen, in dem wir uns weiterentwickeln und wachsen können.

Rituale – so vielfältig wie das Leben selbst
Es gibt weitverbreitete gesellschaftliche und religiös geprägte Rituale wie Weihnachten oder das Osterfest. Es gibt Rituale, die die Jahreszeiten markieren, wie das Sommernachtsfest oder den Tanz in den Mai, oder solche, die entscheidende Übergänge im Leben feiern: die Einschulung, wenn das Kleinkind das Schulalter erreicht, das bestandene Abitur, die Hochzeit, die Taufe eines Kindes bis hin zur Beerdigung am Ende eines Lebens. Aber auch im Kleinen und Persönlichen sind Rituale allgegenwärtig. Das junge Paar, das jedes Jahr den Tag seines Kennenlernens feiert, oder der Freundeskreis, der sich jedes Jahr zu einem bestimmten Ereignis trifft, um die Freundschaft lebendig zu halten. In meiner Familie trafen wir uns vor dem Abendessen im Wohnzimmer, wo wir uns bei einem Getränk erzählten, wie unser Tag verlaufen war. Ein Ritual, das ich sehr vermisste, als ich in die Studenten-WG zog. Doch bald merkte ich, dass es nicht verschwunden war, sondern nur seine Form und Zeit geändert hatte: Statt des Familientreffs um fünf gab es nun den abendlichen Austausch in der WG-Küche nach 22 Uhr.
Rituale durchdringen unser gesamtes Dasein. Sie bieten die Struktur, in der das Leben seinen Sinn entfalten kann, sie verbinden und ermöglichen das Miteinander.
Rituale schaffen einen Rahmen
Konflikte werden in unserer Gesellschaft vor Gerichten ausgefochten. Der ganze Prozess ist stark ritualisiert. Das Aufstehen, wenn die Richter den Saal betreten. Die Prozessordnung, die genau festlegt, wer wann sprechen darf. Die förmliche Anrede, die Roben, die feierliche Verkündung des Urteils „Im Namen des Volkes“ – all dies schafft einen ernsten Rahmen, in dem das Recht ihre Anwendung finden kann.
Ich denke daran, wie wir mit der Familie Karten spielten, als die Großeltern oder meine Tanten und Onkel zu Besuch kamen. Jedes Kartenspiel kennt strenge Regeln, die einen rituellen Rahmen schaffen für Geselligkeit und gute Gespräche. Bei diesen Gelegenheiten würden mir die Geschichten der vorangegangenen Generationen erzählt. Wie mein Vater seinem blinden Großvater die Zeitung vorlas oder wie die Tanten meiner Mutter es mit Kreativität und Erfindungsgeist schafften, trotz Armut ihre Kinder sattzubekommen.
Auch in den Zen-Kursen von Zen-Meditation Berlin nutzen wir Rituale, um einen besonderen Rahmen für Achtsamkeit, Konzentration und Verbundenheit zu schaffen. Es ist jedes Mal wieder eine Herausforderung, sich alle Rituale zu merken, aber gerade das schärft unsere Aufmerksamkeit.
Struktur, Verbindung und ein sicherer Raum
Ein Zen-Kurs bei Zen-Meditation Berlin folgt einer klaren, rituellen Struktur. Bevor wir den Meditationsraum betreten, machen wir eine kleine Verbeugung (Gassho ↗). Wir halten zum Anfang kurz inne, um den Tag hinter uns zu lassen und uns voll auf den Kursabend zu konzentrieren. Nach einer Begrüßungsrunde vertiefen wir ein Thema. Im stillen Teil des Abends meditieren wir zwei Perioden. Am Schluss machen wir eine kleine Teezeremonie.
Diese feste Struktur schafft einen verlässlichen und sicheren Rahmen. Die Teilnehmenden müssen nicht darüber nachdenken, was als Nächstes kommt; sie können sich dem Prozess anvertrauen und ihre Aufmerksamkeit auf das, was jetzt ist, richten. Die Rituale helfen uns, unsere Aufmerksamkeit zu schärfen. Während der Meditation lenken wir den Fokus nach innen und bei der Teezeremonie richten wir ihn wieder nach außen auf die Gruppe. Hier achten wir aufeinander: Wir nehmen das Teeglas erst nach einem Gassho an, wir heben es in einer fließenden Welle gemeinsam mit den anderen auf und warten, bis alle ausgetrunken sind, bevor wir unser Teeglas gemeinsam wieder abstellen.
Durch solche Handlungen stimmen wir uns nonverbal aufeinander ab. Sie machen unser Zusammensein zu etwas Besonderem, nicht Alltäglichem. Gleichzeitig halten uns die Rituale einen Spiegel vor. Wenn wir nur kurz abgelenkt sind, verpassen wir vielleicht eine Handlung. Das ist kein Fehler, sondern Teil des Spiels, in dem wir gemeinsam wachsen können.
Das ernste Spiel des Lebens
Rituale sind mehr als leere Gewohnheiten. Sie sind die Spielregeln für das ernste und zugleich bereichernde Spiel des Miteinanders. Ein Begräbnisritual schafft einen Rahmen für die Trauer, ein Hochzeitsritual einen Rahmen für die Verbindung. Das rituelle Gerüst bei Zen-Meditation Berlin schafft einen sicheren Raum, in dem wir uns strukturiert und in Gemeinschaft dem wichtigsten Thema überhaupt widmen können: unserem eigenen Leben. In einer Welt voller Ablenkungen ist die bewusste Entscheidung für ein Ritual nicht nur eine Handlung, sondern eine Einladung: eine Einladung, dem eigenen Leben eine tiefere, geteilte Bedeutung zu geben.
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Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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