Meine Erleuchtung und das Ego

„Was ist Erleuchtung?“ Diese Frage wird mir in meinen Kursen oft gestellt. Es ist eine große Frage, umgeben von Mysterien und Vorstellungen von übernatürlichen Zuständen. Doch im Zen ist die Antwort oft einfacher, direkter und praktischer, als wir denken. In diesem Artikel möchte ich einen klaren, alltagsnahen Blick darauf werfen, was Erleuchtung aus der Zen-Perspektive bedeutet und welche entscheidende Rolle unser „Ego“ dabei spielt.

Strichzeichnung eines lächelnden Zen-Mönchs, der meditiert, nachdem er seine Brille – ein Symbol für das Ego – abgelegt hat.
Meditieren ist die Kunst, deine Brille abzulegen und die Wirklichkeit direkt zu erfahren.

Die Weisheit des Herz-Sutras – Form ist Leere

Im Herz-Sutra wird Erleuchtung als ein Zustand tiefer innerer Ruhe beschrieben. Kein mystisches Feuerwerk, sondern die Einsicht, dass alles leer ist und keinen festen Kern hat: Formen, Gefühle, Gedanken, selbst das Ego, das wir so selbstverständlich erfahren – alles leer. Das Sutra fasst es so zusammen: Form ist Leere, Leere ist Form. Diese Einsicht in Śūnyatā, die Leerheit, soll uns von Leiden und Unwissenheit befreien. Wir müssen dann weniger krampfhaft an Illusionen festhalten oder ängstlich unsere Sicherheiten bewahren. Wenn wir die Dinge mehr so sehen, wie sie wirklich sind, fällt eine Last von uns ab. Das ist der tiefe Frieden, auf den das Herz-Sutra hinweist. Aber wie funktioniert das, und wie erreichen wir das?

Leere als Wandel – nichts steht still

Heute könnten wir Leerheit vielleicht am besten mit dem Wort Wandel umschreiben. Alles ist fortwährend in Bewegung. Nichts ist fest und getrennt, auch wenn es sich oft so anfühlt. Wir sind untrennbar mit unserer Umgebung verbunden, und gerade weil sich alles wandelt, gibt es auch kein separates Selbst. Unsere tief verwurzelten Überzeugungen und festen Vorstellungen sind also im Grunde falsch, obwohl wir im Alltag nicht auf Vorstellungen über uns selbst und unsere Umwelt verzichten können.

Das Ego – eine nützliche, aber trügerische Brille

In unserer Zeit wird der Begriff „Ego“ oft verwendet: in der Psychologie, im Sport, in unseren Beziehungen. Deshalb ist es hilfreich, die Idee des Egos in diesem Rahmen zu durchschauen. Es ist ein Bild, eine Bubble, eine Brille, mit der wir uns selbst sehen. Ohne Ego können wir nicht funktionieren. Wir brauchen es, um uns in der Welt zu orientieren. Sobald wir uns jedoch mit diesem Bild identifizieren und vergessen, dass es nur eine Brille und nicht die Realität ist, machen wir uns das Leben schwer.

Zen-Meditation – lernen, die Ego-Brille abzusetzen

Deshalb nenne ich Zen-Meditation Lernen, dein Ego zu durchschauen. Nicht es zu zerstören, nicht es zu verachten, sondern es zu durchschauen. Du erkennst: Meine Vorstellung ist nur eine Perspektive, eine Brille, durch die ich auf mich selbst und die Welt blicke. Wenn ich das durchschaue, kann ich die Brille leichter auch mal absetzen. Erleuchtung ist dann die Fähigkeit, die Welt und die Menschen um dich herum sehen zu können, ohne deine Ego-Brille zu tragen. Dann siehst du besser, was wirklich ist, weniger gefärbt von Angst oder Eigeninteresse. Je besser du diese Brille absetzen kannst, desto erleuchteter bist du.

Das Leben ohne Ego-Brille – mehr Gelassenheit, tiefere Freude

Wenn du von starken Emotionen berührt wirst, lässt du dich nicht mehr so schnell aus der Bahn werfen, auch wenn du verlassen, bestohlen, verspottet oder belogen wirst. Andererseits bedeutet es auch, dass du dich nicht übermäßig aufregen wirst, wenn du eine große Promotion bekommst, plötzlich Erfolg hast oder berühmt wirst. Wird das Leben dann nicht langweilig? Im Gegenteil. Wenn du nicht fortwährend deine persönlichen Belange und Meinungen in den Vordergrund rückst, wird eine tiefe Gelassenheit in dein Dasein einkehren. Eine Ruhe, die dafür sorgt, dass du all die kleinen Dinge intensiver genießen kannst, wodurch du auf einer grundlegenden Ebene glücklicher bist und besser mit den Höhen und Tiefen in deinem Leben umgehen kannst. Sie bleiben zwar bestehen, aber sie berühren dich weniger: Du wirst viel seltener aus dem Gleichgewicht gebracht.

Das Herz-Sutra lehrt, dass Leerheit nicht bedeutet, dass nichts da ist, sondern dass die Wirklichkeit freier und offener ist, als unser Ego es uns oft vorspiegelt. Und diese Einsicht schafft Raum: Raum, um leichter zu leben, aufmerksamer präsent zu sein und dem anderen wirklich zu begegnen.

Hat dich dieser Artikel inspiriert? Der Zenletter bietet dir jede Woche neue Impulse.

Abonniere den Zenletter 

Erhalte jeden Freitag neue Zen-Inspiration direkt in dein Postfach:

  • Fragen, die neue Perspektiven eröffnen
  • Humorvolle Zen-Anekdoten
  • Zitate voller Weisheit aus aller Welt
  • Artikel, die vielfältige Aspekte des Zen beleuchten

Mehr lesen:

Rients Ritskes, der eine Brille und ein weißes Hemd trägt.

Zen-Meister und Gründer von Zen.nl

Hier geht es zu allen Artikeln von Rients Ritskes.

Hast du Fragen zum Artikel, möchtest du etwas kommentieren oder einfach mehr über Zen erfahren? Schreib der Redaktion eine E-Mail 📧 – wir freuen uns auf deine Nachricht und antworten dir gerne.😊

Click to listen highlighted text!