Der Herbst – alles auf Neubeginn

Die blühende Transformation des Herbstes

Sobald die Tage kürzer werden und die ersten Blätter fallen, überkommt viele von uns eine leise Melancholie. Wir sprechen vom „Herbst des Lebens“, wenn wir meinen, dass der Höhepunkt bereits überschritten ist. Die leuchtenden Farben der Blätter sind in dieser Erzählung nur ein kurzes, prächtiges Aufbäumen vor dem endgültigen Ende – dem kahlen, leblosen Winter, der oft mit dem Tod assoziiert wird.

Herbstlandschaft mit einem ruhigen See, der die leuchtenden Farben des Waldes spiegelt. Ein Sinnbild für die innere Transformation und den Neubeginn aus Zen-Perspektive.

Doch diese Erzählung entspringt nicht der Natur, sondern unserem Geist. Es ist eine Vorstellung, die wir auf die Jahreszeit projizieren, oft genährt von unserer eigenen Angst vor Vergänglichkeit. Im Zen geht es darum, diese Vorstellungen zu durchschauen. Es ist eine Einladung, unsere Konzepte loszulassen und mit einem neuen Blick auf das zu schauen, was wirklich geschieht. Wenn wir das tun, entdecken wir, dass der Herbst keine Phase des Endes ist, sondern eine der aktivsten und kreativsten Phasen im Zyklus des Lebens. Es ist keine Zeit des Abbaus, sondern eine Zeit der blühenden Transformation, die genauso einen Neubeginn darstellt, wie zum Beispiel den Frühling.

Herbstblätter – Zeugnis der ewigen Verwandlung

In der Natur entsteht nichts und nichts vergeht – alles befindet sich in einer ewigen Transformation. Die leuchtenden Gelb-, Orange- und Rottöne sind keine neuen Kreationen des Herbstes; sie waren als Teil des Blattes immer schon präsent. Im Sommer wird ihre Existenz lediglich von der intensiven Arbeit des grünen Chlorophylls überlagert. Wenn der Baum im Herbst seine Energie nach innen zieht, bricht er dieses Grün nicht ab – er verwandelt es zurück in Nährstoffe, die in den Wurzeln gespeichert werden. In diesem Moment tritt die vielschichtige Natur des Blattes hervor. Es ist kein Vergehen des Grüns, sondern eine Enthüllung des Gelbs. Nichts ist verloren, alles hat nur seine Form geändert.

Die Aktivität des Sommers ist expansiv und nach außen gerichtet, vergleichbar mit der Energie der Jugend, die sich in die Welt hinauswagt. Während des Älterwerdens verschwindet diese Energie nicht; sie verändert lediglich ihren Fokus. Die expansive Energie des Frühlings und Sommers wird zur Kraft der Reife, die sich im Herbst manifestiert.

Auch das Loslassen der Blätter ist keine Geste der Schwäche. Ein Baum wirft seine Blätter nicht einfach ab. Er zieht aktiv die wertvollen Nährstoffe – Stickstoff, Phosphor, Magnesium – aus ihnen zurück und speichert sie in seinen Wurzeln und im Stamm. Es ist ein meisterhaftes Recycling-System, ein Akt purer Effizienz. Das Abwerfen des nun leeren Blattes ist eine zielgerichtete, überlebenswichtige Strategie.

Der verborgene Neuanfang

Während es an der Oberfläche stiller wird, explodiert unter der Erde die Aktivität. Hier, im Verborgenen, findet die eigentliche Transformation statt, angetrieben von den wahren Meistern der Vernetzung und Verwertung: den Pilzen. Ihr feines Netzwerk aus unzähligen Fäden, das Myzel, bildet die Grundlage für das „Wood Wide Web“. Das natürliche Kommunikations- und Informationsnetzwerk im Boden eines Waldes, das durch diese unterirdischen Pilzgeflechte (Mykorrhiza) gebildet wird und Bäume und andere Pflanzen miteinander verbindet. Nährstoffe, Wasser und sogar Warnsignale vor Schädlingen werden hier ausgetauscht. Obwohl wir die einzelnen Bäume von außen als individuelle und isolierte Wesen wahrnehmen, ist der Wald in seiner Ganzheit betrachtet ein Modell radikaler Verbundenheit.

Die gefallenen Blätter und Äste des Sommers sind für das Myzel kein Abfall, sondern ein Festmahl. Pilze sind die großen Überlebenskünstler des Planeten, weil sie fast alles als Nahrung nutzen können. Mit den Enzymen, die sie absondern, zersetzen sie mühelos organisches Material, das für andere nutzlos ist. Im Gegensatz zum Menschen, der in seinem eigenen Abfall zu ersticken droht, kennt das Pilzreich keinen Müll. Aus dem scheinbar Toten und Nutzlosen entsteht die Grundlage für alles neue Leben: fruchtbarer, dunkler Humus.

Die Blüte der Transformation

Wenn wir die Brille des Verfalls ablegen, sehen wir den Herbst mit neuen Augen. Er ist keine Zeit des Endes, sondern eine wesentliche und aktive Phase der Erneuerung. Er ist die stille Werkstatt, in der die Überreste des Vorhergegangenen in die Bausteine des Kommenden verwandelt werden. Der Herbst lehrt uns, dass die wertvollsten Prozesse oft im Verborgenen stattfinden.

Indem wir uns diesem Rhythmus hingeben, können wir die Fülle des Herbstes auch in unserem Inneren erfahren. Wir lassen los, was uns nicht mehr nährt, verarbeiten unsere Erfahrungen zu fruchtbarer Weisheit und schaffen so den Raum, aus dem im Frühling etwas völlig Neues erblühen kann. Der Herbst ist nicht das traurige Ende des Liedes. Er ist die kraftvolle Stille zwischen zwei Strophen – voller Potenzial und Versprechen.

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Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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