Einheitsbewusstsein

Eine Entdeckungsreise in das Gewebe des Lebens

Es war ein langer Weg. Ich erinnere mich noch an den Anfang, als ich aufgeregt mit vielen anderen jungen Studienanfängern, die vor ihrem ersten Jahr im Jurastudium standen, in einer großen Utrechter Kirche saß. Professoren erzählten uns, was im Studium wichtig ist und was von uns erwartet wird. Es folgten Jahre mit vielen Seminaren, Arbeiten und Prüfungen. Das erste Mal von zu Hause weg, das Miteinander in der WG, die Zusammenarbeit mit den Kommilitonen und die langen Abende in den Utrechter Cafés. Und als die Professorin mir Jahre später nach bestandenem Examen zum Abschluss des Jurastudiums gratulierte, wusste ich: Ich habe es endlich geschafft. Oder?

Ein Lebensbaum mit tiefen Wurzeln und einer vollen Blätterkrone, in der ein rotes Herz leuchtet. Daneben fliegen drei Vögel.

Nein! Nicht ich, sondern wir. Und wir waren sehr viele: die Dozenten, die mir erklärten, was Recht ist, die Kommilitonen, mit denen ich die gemeinsamen Arbeiten schrieb, meine Eltern, die mir finanziell unter die Arme griffen, und die Freundinnen, die mir ermutigend zuredeten, als ich nach einer vermasselten Prüfung dachte, ich werde das nie schaffen. Sie sind nur einige, die letztlich daran beigetragen haben, dass ich es geschafft habe, und denen ich im Nachhinein zutiefst dankbar bin. Dieser persönliche Erfolg war in Wahrheit ein Gemeinschaftsprojekt. Wie alle Erfolge letztendlich gemeinsame Erfolge sind, die man am besten auch gemeinsam feiert.

Das Wunder – mein tägliches Brot

Diese Verbundenheit geht weit über persönliche Meilensteine hinaus. Sie ist in den einfachsten Momenten des Lebens präsent. Ich werde mir dessen bewusst, während ich am Küchentisch sitze und mir ein Butterbrot mache. Ich frage mich, ob ich es schaffe, alle Menschen aufzulisten, die daran beteiligt waren, dass ich dieses Brot jetzt essen kann. Der Bauer, der das Getreide erntete, der Müller, der es zu Mehl mahlte, der Bäcker, die Verkäufer, die vielen Menschen, die am Transport und der Lagerung beteiligt waren. Und all diese Menschen existieren nur, weil unzählige Generationen vor ihnen kamen.

Ich werde mir bewusst, dass ich, indem ich dieses Brot esse, mit all diesen Menschen verbunden bin. Und nicht nur mit den Menschen. Ohne die Sonne, den Regen und den fruchtbaren Boden könnte das Getreide nicht wachsen. Auch mit diesen Elementen verbindet mich diese Brotmahlzeit. Ein fast sakraler Akt, für den wir uns früher bei Gott bedankten und der heute vielleicht eine Gelegenheit bietet, das allumfassende Netz des Lebens selbst zu würdigen.

Dankbarkeit, Verantwortung, Nachsicht

Wir teilen nicht nur unsere Erfolge, sondern auch die Wunden unseres Zusammenseins. Zu unserem „Wir“ gehören auch die Menschen, die sich das Brot nicht erwerben, sondern es uns wegnehmen. Menschen, die betrügen, lügen oder ihren Frust an anderen auslassen und ihnen schweres Leid zufügen. Menschen, die nur ihre eigenen Bedürfnisse anerkennen und eine Spur des Unglücks hinterlassen. Jedoch kann auch unsere eigene Unachtsamkeit schmerzhafte Risse verursachen: gedankenlose Wörter in einem Streit, die einen geliebten Menschen zutiefst verletzen, oder einen Moment der Unaufmerksamkeit am Steuer mit weitreichenden Folgen.

Sowohl im Erfolg als auch im Scheitern spielen wir eine größere oder kleinere Rolle, aber nie die einzige. Aus dieser Erkenntnis erwächst eine Haltung, die drei wesentliche Aspekte in sich vereint: die tiefe Dankbarkeit für alle, die an unseren Erfolgen beteiligt sind, die klare Verantwortung für die Folgen unseres eigenen Tuns und die befreiende Nachsicht mit uns selbst, wenn wir scheitern – im Wissen, dass wir auch dann nur ein Teil des Ganzen waren.

Blaues Anführungszeichen-Symbol – steht für ein wörtliches Zitat

Die Zen-Praxis: Das Einheitsbewusstsein leben

Die erfahrene Erkenntnis dieses Zusammenhangs zwischen allem Existierenden bezeichnen wir im Zen-Buddhismus als Einheitsbewusstsein. Wir versuchen, diese Einheit in Ritualen, Erzählungen und vor allem in der Praxis der Sitzmeditation (Zazen ) erfahrbar zu machen. Wenn wir es schaffen, die starren Grenzen des eigenen Egos zu durchschauen, werden wir fähig, die tieferen Verbindungen zu sehen, die sich entscheidend auf unser aller Wohlbefinden auswirken.

Ob wir wollen oder nicht, wir sind in ein Gewebe eingebunden, das nicht nur weit bis in den Kosmos, sondern auch in die Vergangenheit und Zukunft reicht. Wer dies nicht nur in der Theorie glaubt, sondern in der Tiefe der Meditation erfahren hat, erfährt diese Verbundenheit mit jedem Atemzug. Wir sind ein Faden im riesigen Gewebe des Lebens, und als solche halten wir es zusammen. Mit meiner Arbeit für Zen-Meditation Berlin versuche ich, einen Raum zu schaffen, in dem möglichst viele Menschen dieses Einheitsbewusstsein erfahren können, damit wir lernen, unsere Erfolge gemeinsam zu feiern und gemeinsam die Verantwortung für das Ganze zu tragen.

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Mehr lesen:

  • Dankbarkeit: Wie sie dich mit allem verbindet – Lese, wie Dankbarkeit dich nicht nur mit deinen Mitmenschen, sondern mit dem gesamten Gewebe des Lebens verbindet. Entdecke ein tieferes Gefühl von Einheit und Wohlbefinden.
  • Mitgefühl: Verbinde dich mit allem – Erfahre, wie du durch das bewusste Einatmen von Leid und Ausatmen von Glück eine tiefgreifende Verbundenheit mit allen Wesen entdeckst. Dies ist der Weg zu nachhaltigem Glück, das über dich hinausreicht.
  • Leid sehen, Einheit erfahren – Buddhas entscheidende Begegnungen offenbaren die universelle Natur des Leidens, das uns alle im Gewebe des Lebens verbindet.
  • Verantwortung nehmen – Der Weg aus der Fremdbestimmtheit beginnt, wenn die Suche nach Schuldigen endet.
Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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