Die Wirklichkeit ist so komplex, dass ich mir oft vorstelle, dass ich durch ein enges Rohr auf die Welt blicke, durch das ich immer nur ein kleines Fragment sehen kann. Der Buddha nutzte eine andere Metapher, um unseren beschränkten Blick auf eine komplexe Welt zu verdeutlichen. Als er vor 2500 Jahren nach den Konflikten seiner Zeit befragt wurde, erzählte er folgende Geschichte:
Eine Gruppe von Blinden sollte einen Elefanten betasten. Jeder berührte einen anderen Teil – der eine den Rüssel und sagte „Es ist ein Schlauch“, ein anderer das Bein und war überzeugt „Es ist ein Baumstamm“. Anschließend stritten sie heftig darüber, was ein Elefant wirklich sei, denn jeder hielt seine eigene, begrenzte Erfahrung für die ganze und einzige Wahrheit.

Wir könnten unseren beschränkten Blick dadurch erweitern, dass wir uns über die Fragmente austauschen, die wir durch unser persönliches Rohr sehen. Gerade in Zeiten großer Veränderungen wäre ein solcher Austausch wichtig, findet durch die zugenommene Polarisation jedoch nicht statt. Es scheint, als hielte jeder noch fester an seinem eigenen Rohr fest.
Die Wahrheit: objektiv oder subjektiv?
Wenn es um die Wahrheit geht, bewegen wir uns oft zwischen zwei großen, grundlegenden Ideen. Die eine besagt, dass es da draußen eine feste, objektive Wahrheit gibt, die es zu entdecken gilt. Die andere geht davon aus, dass Wahrheit vordergründig subjektiv ist – also das, was wir als wahr empfinden oder worüber wir uns als Gesellschaft einigen.
Beide Haltungen führen in die Enge, wenn sie verabsolutiert werden, aber auf unterschiedliche Weise. Der Glaube an eine einzige, objektive Wahrheit kann zu Dogmatismus und dem Anspruch führen, die Spielregeln für alle zu bestimmen – wie es in der Geschichte oft im Namen von Gott oder einer Ideologie geschah. Die rein subjektive Haltung hingegen, bei der nur die eigene Perspektive oder die der eigenen Gruppe zählt, kann zu Orientierungslosigkeit und gesellschaftlicher Zersplitterung führen. Wenn es keine gemeinsame Wirklichkeit mehr gibt, wird ein echter Dialog fast unmöglich.
Ein dritter Weg: der Fels, die Welle und das Meer
Der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh prägte das kraftvolle Bild von der Welle und dem Meer, um unser Verhältnis zu uns selbst und zur Welt zu beleuchten. In diesem Bild sind wir eine der vielen Wellen: für einen Moment einzigartig und individuell in unserer Form. Gleichzeitig sind wir aber untrennbar das Meer selbst – das große, verbundene Ganze, aus dem wir entstehen und in das wir zurückkehren.
Diese Metapher lässt sich wunderbar auf unser Ringen um die Wahrheit übertragen, wenn wir sie um ein drittes Element erweitern: den Fels.
Der Fels (die physische Realität): Es gibt eine unbestreitbare, grundlegende Wirklichkeit. Eine Welle zerschellt an einem Felsen, egal was sie darüber „denkt“. Diese Ebene ist unser gemeinsamer Boden, die harten Fakten der Existenz. Zen ist zutiefst realistisch und beginnt mit der Anerkennung dieser unumstößlichen Gegebenheiten.
Die Welle (die erlebte Realität): Das ist deine persönliche, subjektive Erfahrung. Deine ganz eigenen Gedanken, deine Gefühle, deine Geschichte. Diese Welle ist einzigartig und absolut real. Zen leugnet diese individuelle Erfahrung nicht; sie ist der Ausgangspunkt jeder Reise. Deine Freude, deine Angst, dein Blick durch dein persönliches „Rohr“ – all das ist Teil der Wahrheit.
Das Meer (die fundamentale Realität): Hier liegt der Schlüssel der Zen-Perspektive. Die Welle ist nicht vom Meer getrennt; sie ist das Meer in einer spezifischen, vergänglichen Form. Deine individuelle Existenz ist keine isolierte Einheit, sondern ein Ausdruck des großen, untereinander verbundenen Ganzen. Die Grenzen, die wir zwischen „ich“ und „du“ ziehen, sind real in unserer Erfahrung, auf einer fundamentaleren Ebene sind sie durchlässig. Die befreiende Einsicht ist nicht, dass du dich zwischen Welle und Meer entscheiden musst. Die Einsicht ist, dass du beides gleichzeitig bist.
Vom Erkennen zur Praxis: Der Mut zum Nicht-Denken
Wie aber können wir diese tiefere, verbindende Realität des Meeres erfahren? Die Antwort liegt nicht darin, anders zu denken, sondern für einen Moment aus dem Denken auszusteigen.
Hier bietet Zen eine verbindende Praxis an: den Mut zum Nicht-Denken. Es ist die Einladung, den konzeptuellen Geist für einen Moment zur Ruhe kommen zu lassen. In der Stille der Zen-Meditation (Zazen ↗) hören wir auf, die Welt zu interpretieren, und beginnen, sie direkt und nonverbal zu erfahren. Durch die Meditation verschließen wir uns nicht der Realität, sondern tauchen tief in sie hinein.
Während dein Geist zur Ruhe kommt, kann sich auch dein Nervensystem regulieren. Sie hilft, mit der Angst und Unsicherheit umzugehen, die in unserer komplexen Welt unweigerlich entstehen. Sie verändert auch unser Verständnis von Freiheit. Es geht nicht mehr darum, sich als festes, „richtiges“ Ich zu behaupten, sondern um die Freiheit vom Bild dieses getrennten Ichs.
Eine Einladung zur Verbindung
Letztlich bietet dieser Weg keine eindeutige Antwort auf die Frage „Was ist Wahrheit?“. Die Zen-Meditation lehrt uns, mit dieser vielschichtigen, komplexen Welt umzugehen, ohne uns in Gewissheiten zu flüchten, und dabei eine tiefere Verbindung zu uns selbst und zu anderen zu finden. Es ist ein Weg, auf dem wir lernen, mit Skepsis auf unser eigenes Fragment zu blicken und mit Neugierde auf das der anderen. Denn vielleicht ist die tiefste Wahrheit kein Standpunkt, den man einnimmt, sondern der Raum, in dem alle Standpunkte Platz haben – so wie das weite Meer, das alle Wellen in sich trägt.
Diesen Raum auch im Konkreten zur Verfügung zu stellen, ist uns ein zentrales Anliegen. Zen-Meditation Berlin ist vor allem auch ein Übungsraum, in dem wir ohne Urteil unsere eigene Perspektive erforschen und lernen, dem Fragment des anderen mit Offenheit zu begegnen.
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Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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