Menschen, die zu einem Zen-Kurs finden, sind verständlicherweise oft auf der Suche nach mehr Ruhe und Entspannung. Sie möchten dem Stress des Alltags entfliehen. Doch die Zen-Praxis hält eine tiefere, unerwartete Lektion bereit: die Fähigkeit, unsere Beziehung zu Schmerz, Unruhe und jeglichem Unbehagen von Grund auf zu verändern.

Die wissenschaftliche Bestätigung dafür las ich in einem älteren Spiegelartikel: Achtsamkeitsmeditation kann Schmerzen ebenso lindern wie Medikamente. Dieser Befund war für mich der Anlass, meine eigenen, persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema zu beschreiben.
Die Herausforderung des stillen Sitzens
Ob im ganzen oder halben Lotus, auf einer Meditationsbank oder doch lieber auf zwei Kissen – längere Zeit in einer Meditationshaltung zu verharren, kann körperlich herausfordernd sein. Vielleicht spürst du nach einer Weile, wie die Knie leicht ziehen, der Rücken sich verspannt oder die Füße anfangen zu kribbeln. Das sind ganz normale Signale des Körpers, der gegen das lange Stillsitzen protestiert.
Die Meditation bei Zen-Meditation Berlin ist im Gegensatz zu den Herausforderungen des echten Lebens, eine Übung in einem geschützten Rahmen. Im echten Leben wissen wir nicht, wann das Unbehagen endet. In der Meditation klingt nach 20 Minuten verlässlich die Glocke. Dann können wir die Beine strecken und gemeinsam durch den Raum gehen. Es ist eine Trainingssituation, in der wir lernen, mit den unvermeidlichen Unannehmlichkeiten des Lebens umzugehen. Eine Trainingssituation, die für mich zu unerwarteten und tiefen Lektionen führte.
Erste Lektion: Den Schmerz beobachten, ohne ihn an mich heranzulassen
Meine eindrücklichste Erfahrung mit dem Schmerz machte ich während eines Sesshins ↗ – ein Retreat, bei dem man tagelang für viele Stunden meditiert. Die körperliche und mentale Herausforderung war wie immer groß. Die nagenden Schmerzen in meinen Beinen, die nach einigen Tagen intensiver Meditation aufkamen, wurden zu einer echten Zerreißprobe.
Doch diesmal passierte etwas Neues. Anstatt mich von dem Schmerz überwältigen zu lassen und nur noch auf das erlösende Läuten der Glocke zu warten, konnte ich mich trotz des Schmerzes auf meinen Atem konzentrieren. Der Schmerz war präsent, aber er lenkte mich nicht mehr ab. Ich konnte ihn beobachten, ohne ihn an mich heranzulassen oder mich von ihm mitreißen zu lassen. Eine Offenbarung.
Zweite Lektion: Die Illusion des schmerzlosen Lebens
Nach dieser tiefen Erfahrung dachte ich, ich hätte das Rätsel gelöst. Ich fühlte mich unbesiegbar und glaubte, den Schmerz für immer aus meinem Leben verbannen zu können. Eine Illusion, die beim nächsten Sesshin Monate später zerplatzte.
Der Schmerz kam zurück, und zwar heftiger als zuvor. Warum? Weil ich krampfhaft versuchte, die alte Erfahrung zu wiederholen. Ich wollte den Schmerz nicht fühlen und versuchte, mein neues „Wundermittel“ anzuwenden. Mit aller Macht versuchte ich, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, und lernte das große Paradox der Zen-Praxis: Solange du versuchst, den Schmerz irgendwie loszuwerden, hat er dich fest im Griff. Mein Kampf dagegen war das eigentliche Leiden.
Die Einsicht meiner ersten Lektion war tiefgreifend, aber sie muss reifen, um zu einer verinnerlichten Weisheit zu werden. Erst durch die wiederholte Praxis und die Akzeptanz, dass das Leben manchmal schmerzhaft ist, kann sich eine Haltung entwickeln, in der man lange sitzen und Schmerz empfinden kann, ohne davon aus der Bahn geworfen zu werden. Die Praxis lehrt uns nicht, den Schmerz zu suchen, sondern ihm, wenn er auftaucht, mit Klarheit und ohne Widerstand zu begegnen. Zen ist letztendlich keine Technik, sondern eine Lebenshaltung.
Es ist durchaus sinnvoll, Schmerzen zu lindern, wenn es möglich und ratsam ist. Die Zen-Meditation verschafft uns jedoch die Freiheit, selbstbestimmt zu entscheiden, wie wir reagieren: ob wir einen Abend mit Kopfschmerzen ohne Tablette durchstehen oder uns bei lang anhaltenden, zermürbenden Schmerzen bewusst für ein linderndes Medikament entscheiden.
Die Prüfung im echten Leben
Wie sehr diese über Jahre entwickelte Haltung zu einem fast automatischen Reflex geworden ist, zeigte sich kürzlich, als ein kleines Basalzellkarzinom aus meinem Gesicht entfernt werden musste. Der Eingriff war trotz Betäubung schmerzhaft. Doch anstatt mich in dem Schmerz zu verlieren, passierte fast automatisch das, was ich auf dem Kissen unzählige Male geübt hatte: Meine Aufmerksamkeit fand den Weg zu meiner tiefen Bauchatmung.
Der Pfleger war sichtlich beeindruckt. „Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so ruhig bleibt“, sagte er. Dank dieser Ruhe war die Operation in der halben geplanten Zeit vorbei. Ich hatte mir auf dem Kissen eine Haltung antrainiert, die das „echte“ Leben um einiges erträglicher und damit freudvoller macht.
Dritte Lektion: Der Schmerz ist mein Lehrer
Erst als ich beim Schreiben dieses Artikels über all diese Erlebnisse nachdachte, erkannte ich eine tiefere Wahrheit. Lange Zeit hatte ich den Schmerz während der Meditation als Hindernis gesehen, das überwunden werden musste. Jetzt erkenne ich: Gerade der Schmerz, der im geschützten Rahmen unserer Zen-Übung auftaucht, ist mein strengster, aber auch mein ehrlichster Lehrer. Er zeigt mir unbestechlich, wo ich ankämpfe, wo ich mich verspanne und wo ich noch nicht loslassen kann. Er lädt mich immer wieder ein, nicht in den Widerstand zu gehen, sondern präsent zu bleiben – bei meinem Atem und im gegenwärtigen Moment.
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Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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