Die Freiheit der Leere

Was das jahrtausendealte Herz-Sutra über unsere Wahrnehmung verrät

Das Herz-Sutra ist einer der wichtigsten und tiefgründigsten Texte des Mahayana-Buddhismus , der buddhistischen Richtung, zu der auch der Zen-Buddhismus gehört. Es enthält eine zeitlose Blaupause unseres Bewusstseins – eine Erklärung, wie wir die Welt wahrnehmen, die erstaunliche Parallelen zu modernen psychologischen Erkenntnissen aufweist. Dieses Modell wurde schon von Siddhartha Gautama , dem historischen Buddha, herangezogen. In diesem Artikel beschreibe ich dieses Konzept und die radikal befreiende Schlussfolgerung, die das Sutra daraus zieht.

Was steht im Herz-Sutra? Hierunter der Anfang der deutschen Übersetzung. Den ganzen Text findest du hier: Herz-Sutra .

Blaues Anführungszeichen-Symbol – steht für ein wörtliches Zitat

Die fünf Schichten der Wirklichkeit: Was sind die Skandhas?

Obwohl der Text des Herz-Sutra erst später seine endgültige Form erhielt, basiert er auf der viel älteren Lehre von Siddhartha Gautama selbst. Er führte die Idee dieser fünf Skandhas ein, die man als die fünf Aggregate oder Schichten beschreiben kann, aus denen unser Bewusstsein unsere erlebte Wirklichkeit konstruiert: Form, Empfindung, Wahrnehmung, Antriebe und Bewusstsein. In dem Text werden die fünf Skandhas als die „Quellen unserer Existenz“ genannt. Damit ist gemeint, dass unsere subjektive Existenz durch das Bewusstsein geformt wird. Und die zentrale Botschaft des Herz-Sutras ist: Sie sind alle leer. Leerheit (Śūnyatā) bedeutet im Herz-Sutra, dass sie keine eigenständige, feste Essenz besitzen. Wer dies durchschaut, überwindet alle Leiden, wie Avalokiteshvara .

Nahaufnahme einer Erdbeertorte als Illustration für den Prozess der Wahrnehmung der fünf Skandhas.
Eine süße Verlockung für die meisten, eine reine Bedrohung für Allergiker.

Der Prozess der Wahrnehmung am Beispiel einer Torte

1. Form (Rūpa): Unser Bewusstsein wird an erster Stelle durch das geformt, was unsere Sinne aufnehmen: was wir fühlen, sehen, riechen und hören. Unsere Wahrnehmung ist dabei kein objektives Foto der Wirklichkeit, denn das, was wir wahrnehmen, wird durch die spezifische Art unserer Sinne bestimmt. Wir können keine Bakterien sehen, weil unsere Augen dafür nicht ausgelegt sind. Wir nehmen die Welt ganz anders wahr als etwa eine Fledermaus, die Echolokalisierung nutzt, oder einen Hund, der die Welt vorwiegend durch Gerüche erfasst.

2. Empfindung (Vedanā): Nachdem wir die Formen der Wirklichkeit wahrgenommen haben, entsteht auf der zweiten Ebene eine unmittelbare, vorkognitive Reaktion: Gefahr (Abstoßung), Chance (Anziehung) oder neutral. In modernen Begriffen könnte man sagen, dass unser limbisches System beurteilt, ob wir uns in Gefahr befinden, die Chance auf Nahrung haben oder ob es uns gleichgültig ist. Die Wirklichkeit ist an sich nicht gefährlich oder ungefährlich. Wenn du etwa eine Torte siehst, werden viele Menschen dieses Bild als „lecker“ empfinden, es sei denn, du hast eine Allergie, und deine Empfindung sagt dir: „Finger weg, Gefahr!“

3. Wahrnehmung (Saṃjñā): Auf dieser Ebene beginnt unser kognitiver Geist, die rohen Daten zu verarbeiten. Wir benennen das Wahrgenommene. Hier geschieht der entscheidende Schritt von der reinen Empfindung zum Konzept. Wenn wir die Torte sehen, benennen wir auf dieser Ebene die Formen und Qualitäten, etwa „rund“ und „rot“.

4. Antrieb (Saṃskāra): Auf dieser Ebene wird aus den losen Etiketten eine Geschichte geschmiedet, die uns antreibt. Der Begriff Antrieb (Saṃskāra) beschreibt hier sowohl die Konstruktion aus dem Vergangenen als auch die antreibende Kraft für das Handeln im Jetzt. Die Informationen der vorangegangenen Ebenen werden zu einer Bedeutung zusammengefügt: „Das ist eine Erdbeertorte. Ich mag Torten. Ich möchte sie essen.“ Dieselben Formen werden dich anders antreiben, wenn du Allergiker bist oder die Erinnerung an eine solche Torte hast, bei der statt Zucker Salz verwendet wurde. Dein Handeln wird also durch die Geschichte bestimmt, die du hier konstruierst.

5. Bewusstsein (Vijñāna): So entsteht auf diesen verschiedenen Ebenen dein Bewusstsein über die Welt um dich herum. Es ist das übergreifende Gewahrsein, das all diese Prozesse zusammenhält und als das „Ich“ erfährt, das – genau wie die äußere Wirklichkeit – in diesem Moment konstruiert wird und eine „Torte“ erlebt.

Die befreiende Einsicht: „Leerheit“ als Freiheit

Die Einsicht, dass die Skandhas alle „leer“ sind – also Konstruktionen ohne feste, absolute Realität – wirkt wie eine Befreiung. Denn wenn wir erkennen, dass wir der Wirklichkeit eine Bedeutung zuschreiben, erkennen wir auch die Freiheit, uns nicht mehr blindlings an diese eine Bedeutung klammern zu müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Vorstellungen keine reale Macht hätten – im Gegenteil. Eine kollektive Vorstellung wie Rassismus schafft eine harte, schmerzhafte Realität. Doch die Lehre der Leere zeigt, dass auch hier die Wurzel des Leidens eine falsche, veränderbare Konstruktion ist.

Das Leiden entsteht nicht durch die Situation selbst, sondern durch die schmerzhafte Geschichte, die wir uns darüber erzählen – und vor dieser Geschichte laufen wir weg. Die Einsicht in die Leerheit ist wie das Licht anzuschalten. Wir sehen plötzlich, dass die furchterregenden Monster in unserem Geist nur Schatten sind, geworfen von unseren eigenen Vorstellungen. Wenn auch unser Leiden eine solche Vorstellung ist, brauchen wir unser Leben nicht mehr darauf auszurichten, davor wegzulaufen. Wir können bei der direkten Erfahrung bleiben, ohne uns dramatischen mentalen Vorstellungen zu verlieren. Darin liegt die Überwindung des Leidens.

Der entscheidende Unterschied zum positiven Denken

Manche verleitet diese Erkenntnis zum positiven Denken. Man könnte argumentieren: „Wenn meine Wirklichkeit eine Konstruktion ist, kann ich einfach eine bessere konstruieren.“ Durch den Austausch einer negativen Vorstellung gegen eine positive kann man sein Leiden lindern. Statt zu denken „Ich bin ein Versager“, denkt man „Ich bin erfolgreich“ und damit vergrößere ich die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich erfolgreich zu sein. Obwohl das eine hilfreiche Methode sein kann, geht es im Herz-Sutra um etwas grundlegend Anderes und Tieferes.

Wo das positive Denken die eine Vorstellung durch die andere ersetzt, lädt das Herz-Sutra uns ein, den gesamten Prozess der Vorstellungsbildung zu durchschauen und unsere Vorstellungen nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Auch die Methode ist eine andere. Statt uns eine neue Denkweise anzutrainieren, sitzen wir in der Meditation und beobachten das Kommen und Gehen aller Vorstellungen, ohne einzugreifen.

Wenn dein Blick auf die Wirklichkeit durch negative Erfahrungen getrübt ist, wirst du dies nicht lösen können, indem du einfach anders denkst, denn dein Denken selbst ist von diesen Mustern geprägt. In der Meditation üben wir stattdessen, die Aufmerksamkeit immer wieder auf die direkte Erfahrung (z. B. den Atem) zu richten. In dem Raum, der dadurch entsteht, geben wir der direkten Erfahrung eine Chance, unsere Vorstellungen zu durchschauen. Das Ziel ist nicht, deine Wirklichkeit zu ändern, sondern deine Beziehung dazu grundlegend zu verändern. In dieser veränderten Beziehung liegt die wahre Freiheit.

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Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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