Das Ego durchschauen

Der Zen-Weg zu wahrer Selbsterkenntnis

Der antike Aufruf „Erkenne dich selbst“ (γνῶθι σεαυτόν), eingemeißelt am Apollotempel in Delphi, beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Philosophen wie Sokrates und Platon sahen darin den Schlüssel zu einem erfüllten Leben. Auch andere große Weisheitstraditionen, einschließlich des Christentums, betonen die Bedeutung der Selbsterkenntnis für persönliches Wachstum.

Stilisierte Zeichnung eines grünen Labyrinths als Symbol für den Zen-Weg zur Selbsterkenntnis.
Wer bin ich? Das Selbst erscheint manchmal als ein unlösbares Labyrinth

Doch während viele Wege bei der intellektuellen Analyse des Selbst stehen bleiben, bietet Zen eine radikal andere Herangehensweise. Es geht nicht darum, ein festes, authentisches „Selbst“ zu erforschen, sondern darum, die Konstruktion unseres Egos zu durchschauen. Eine wichtige Übung dazu ist die Sitzmeditation (Zazen). Obwohl die Zen-Meditation oft mehr Ruhe im Leben bringt und auch deshalb praktiziert wird, ist das primäre Ziel jedoch tiefgreifende Einsicht in die eigenen Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. Die Ruhe und Konzentration, die bei dieser Übung nach einiger Zeit eintreten, sind willkommene Nebenwirkungen in einer Zeit, die von Stress und Aufmerksamkeitsdefiziten geprägt ist, und schaffen gleichzeitig die Voraussetzungen, das eigene Ich zu durchschauen.

Die Zen-Perspektive: Das Selbst als eine Geschichte, die wir gestalten

Im Zen-Buddhismus wird das „Selbst“ nicht als ein festes, unveränderliches Wesen betrachtet, sondern als ein dynamischer Prozess – eine Geschichte, die wir uns ununterbrochen über uns selbst erzählen. Und diese Geschichte kennt mehrere mögliche Variationen und Perspektiven. So kann aus einer Geschichte des Scheiterns eine Erfolgsgeschichte über einen Kampf aus einer schwierigen Situation entstehen, ohne die Fakten zu verdrehen.

Ein kraftvolles Beispiel dafür ist die Lebensgeschichte der US-amerikanischen Talkshow-Ikone Oprah Winfrey. Die Fakten ihrer Kindheit – geprägt von Armut und schweren Traumata – hätten leicht zu einer Lebensgeschichte führen können, die von Leid und Hilflosigkeit bestimmt ist. Doch es gelang Winfrey, diesen Erfahrungen eine neue Deutung zu geben. Sie wurden für sie nicht zum Endpunkt, sondern zum Ausgangspunkt einer Geschichte von Resilienz, Stärke und der Entdeckung innerer Freiheit. Ihr berühmter Leitsatz „Deine Gedanken erschaffen deine Realität“ ist die Essenz dieser Praxis. Es geht nicht darum, die Fakten zu leugnen, sondern darum, sie mit einer neuen, wohlwollenderen Absicht zu betrachten. Oft genügt es schon, unsere eigene Geschichte weniger destruktiv zu deuten, um ihr eine andere Wendung zu geben. Die Einsichten, die wir in der Zen-Praxis gewinnen, helfen uns dabei, destruktive Muster zu erkennen, und geben uns die Freiheit, andere Narrative zu wählen.

Der Weg zur Einsicht: Methoden der Zen-Praxis

Zen bietet keine abstrakten Theorien, sondern konkrete Methoden, um die eigenen Muster zu durchschauen und das Ego transparenter zu machen. Es ist eine Praxis, die den gesamten Menschen einbezieht – sein Fühlen, Denken und Handeln.

Zazen: Das stille Labor der Selbsterkenntnis

Die formale Sitzmeditation, Zazen, ist das Herzstück der Zen-Praxis. Wir sitzen still und schauen zu, welche Gedanken, Gefühle und Erinnerungen auftauchen. Wir lernen, sie zu sehen, ohne uns an sie zu klammern oder sie wegzustoßen. In dieser stillen Beobachtung offenbaren sich die Muster unseres Egos. So gewinnen wir Einsicht in unsere tiefsten Gewohnheiten und Ängste.

Gewahrsein im Alltag (Gyōjūzaga)

Die Praxis beschränkt sich nicht auf das Meditationskissen. Das Ziel ist die Integration dieser achtsamen Haltung in den Alltag, bekannt im Japanischen als Gyōjūzaga (行住坐臥) – das Praktizieren im Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen. Ein wichtiger Aspekt dieses alltäglichen Gewahrseins ist das Spüren des Körpers. Im Zen üben wir uns darin, unsere Emotionen nicht unbedachtsam zu äußern, sondern sie als Chance zu sehen, etwas über uns zu lernen. Woher kommen unsere Unsicherheit, unsere Wut, unsere Irritationen oder auch Freude? Jedes Mal, wenn wir unseren Emotionen den freien Lauf lassen, verpassen wir diese Chance auf Einsicht in unser Dasein.

Schreibmeditation: Ein Dialog mit sich selbst

Eine neue, jedoch sehr direkte Methode, um unbewusste Gedankenmuster ans Licht zu bringen, ist die von uns bei Zen-Meditation Berlin praktizierte „Schreibmeditation“. Die Anweisung ist einfach: Nimm einen Stift und ein günstiges Notizbuch – der geringe Wert des Materials befreit vom Druck, etwas „Schönes“ oder „Intelligentes“ schreiben zu müssen. Dann beginnst du zu schreiben, ohne den Stift abzusetzen und ohne auf Grammatik oder Rechtschreibung zu achten. Du schreibst einfach, was kommt. Diese ungefilterte Form des Schreibens kann überraschende Einsichten in das bringen, was wirklich in dir vorgeht.

Vom Wissen zur Weisheit: Eine Einladung zur Praxis

Selbsterkenntnis ist im Zen kein theoretisches Wissen, das man sich anliest, sondern eine gelebte Weisheit, die aus der Praxis erwächst. Es ist die Fähigkeit, die eigenen Geschichten zu durchschauen, die Signale des Körpers zu verstehen und bewusster auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren.

Bei Zen-Meditation Berlin bieten wir den Raum und die Anleitung, um diese Methoden zu erlernen und zu vertiefen. In unseren Kursen üben wir gemeinsam, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und die Einsichten, die in der Stille entstehen, in unser tägliches Leben zu integrieren.

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Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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