Der leere Spiegel

Mit Zen zurück zum Paradies unserer Kindheit

„Mama, was muss ich tun, um in den Himmel zu kommen?“ „Dafür brauchst du eine weiße Seele“, antwortete meine Mutter. „Wenn du Gutes tust, wird deine Seele weißer. Wenn du etwas Böses tust, wird sie schwarzer. Nur Menschen mit einer überwiegend weißen Seele kommen in den Himmel.“ Das beruhigte mich nicht gerade. Ich fand es mehr als fraglich, ob ich meine Seele bis zu meinem Ableben weiß genug bekäme. Aber ich hatte ja noch Zeit, mein Benehmen zu bessern.

Strichzeichnung: Eine erwachsene Frau blickt in einen großen Spiegel, der nicht sie selbst, sondern ein Kleinkind reflektiert, das ein Herz auf die Spiegeloberfläche malt. Symbolbild für das innere Kind und den unvoreingenommenen 'leeren Spiegel' im Zen.
Das innere Kind als Symbol für spontanes, authentisches Handeln – der Anfängergeist.

Als mir diese Geschichte vor Kurzem wieder einfiel, fragte ich mich, warum ich als Kind eigentlich dachte, es nicht in den Himmel zu schaffen. Ich war als Kind nicht böse, empfand mich jedoch als ungehorsam und ging davon aus, dass mir das den Zugang zum Himmel versperrte. Ich schlich mich aus dem Haus, um unerlaubt auf dem Spielplatz zu spielen, oder ging mit den anderen Kindern auf die Großbaustelle in unserer Straße, obwohl es uns ausdrücklich verboten war.

Der Spiegel als persönlicher Richter

Als Kind erzählen dir die Eltern, wie du dich benehmen sollst. Als Erwachsener hast du viele dieser Regeln verinnerlicht. Du solltest dich so benehmen, dass du dir am Ende des Tages noch in den Spiegel schauen kannst. Mir gelingt das nicht immer. In der Hektik des Alltags behandle ich nicht jeden, dem ich begegne, achtsam und gerecht, und ich komme auch nicht immer ohne Notlüge aus.

Viele der Benimmregeln – Höflichkeit, Ehrlichkeit, Fairness – bieten praktische Anleitungen für ein ordentliches Miteinander, sie sind jedoch nicht immer eindeutig. So führt mein Hang zur Authentizität oft zu mangelnder Solidarität. Die Prämisse der Ehrlichkeit verträgt sich nicht immer mit dem Vorsatz, andere nicht zu kränken. Und wenn ich mir am Ende des Tages in den Spiegel schaue und mich frage, ob ich die richtigen Entscheidungen getroffen habe, gibt er mir keine Antwort.

Der leere Spiegel und der Anfängergeist

Im Zen ist der Spiegel kein Instrument für ein moralisches Urteil über das eigene Benehmen, sondern zeigt uns den Zustand unseres Geistes. Der leere Spiegel verkörpert den erleuchteten Geist, der keinen angelernten oder verinnerlichten Regeln folgt. Er handelt weder aus einem Prinzip der Ehrlichkeit oder Höflichkeit, noch aus Habgier oder Egoismus heraus. Er begegnet der Wirklichkeit, wie sie sich entfaltet, und antwortet spontan. Im Zen nennen wir das den Anfängergeist .

Was würde passieren, wenn wir versuchen, spontan, nicht aus angelernten und verinnerlichten Benimmmustern zu reagieren? Werden wir dann selbstgerecht oder gar egoistisch? „Nein!“, sagte der chinesische Philosoph Mencius schon im 4. Jahrhundert vor Christus: „Was tun wir, wenn wir ein Kind sehen, das in einen Brunnen zu fallen droht? Wir rennen los. Wir wägen nicht ab, ob das moralisch geboten ist. Wir denken nicht nach. Wir handeln.“

Den Spiegel säubern

Erst durch unser Denken wird es schwierig. Wir durften nicht auf die Baustelle, weil unsere Eltern sich Gedanken machten über alles, was da passieren könnte. Und obwohl wir uns am Wochenende, wenn nicht gearbeitet wurde, immer wieder unerlaubt auf diesen großen, rohen und spannenden Spielplatz wagten, ist nie etwas passiert. Vielleicht, dass unser kindlicher Anfängergeist uns davor schützte, uns wirklich in Gefahr zu begeben. Vielleicht hatten wir einfach nur Glück.

Wir sehnen uns oft nach unserer Kindheit zurück, als wir uns noch keine Gedanken über das richtige Benehmen machten. Die Zen-Meditation zeigt uns die Regeln, die wir befolgen, um abends in den Spiegel schauen zu können. Sie hilft uns jedoch auch, den Spiegel vom Staub unserer Vorurteile und von der Angst, etwas Falsches zu machen, zu säubern.


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Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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