Das Herz-Sutra: Leerheit voller Leben

Schon einige Wochen nachdem ich mit der Zen-Meditation angefangen hatte, fiel mir auf, wie schön die Welt um mich herum eigentlich ist. Die Blume auf dem Weg zum Supermarkt, der Vollmond durch mein Schlafzimmerfenster oder das freundliche Lächeln der Frau, bei der ich schon seit Jahren meine Brötchen kaufe. Das alles war mir vorher nicht aufgefallen. In diesem Artikel beschreibe ich, was das mit einem der schwierigsten, jedoch wichtigsten Texte des Zenbuddhismus, dem Herz-Sutra, zu tun hat.

Ein mit schwarzer Tinte gemalter Enso-Kreis, Symbol für Zen, Leere und das Herz-Sutra.
Der Ensō symbolisiert die Kernbotschaft des Herz-Sutras: Form ist Leere, Leere ist Form.

➡️ Die Übersetzung des Textes ins Deutsche findest du hier: Herz-Sutra

Unser Denken über Leerheit und nichts

Was den Text so schwierig macht, ist, dass unser Denken uns im Wege steht, ihn tatsächlich zu verstehen. Unsere Wahrnehmung ist geprägt von unseren gedanklichen Vorstellungen und Vorurteilen. Und genau das ist das Thema und gleichzeitig die Herausforderung des Herz-Sutras:

Alles, was wir empfinden, fühlen, sehen, denken, ist leer. Auch wir selbst: leer. Schon schnell wird der voreilige Schluss gezogen, dass leer gleich nichts ist, und wenn alles nichts ist, ist alles egal. Aus diesen Gedanken heraus wird der Zenbuddhismus oft als nihilistisch empfunden. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn diese Leerheit ist nicht nichts, sie ist eine schöpferische Energie, sie ist die Verkörperung von dem, was noch nicht ist, voller Potenzial. So wie aus der Leerheit der Klangschale ein Klang entstehen kann.

Wir verwechseln unsere gedanklichen Vorstellungen, von dem, was wir erfahren, oft mit der Wirklichkeit. Zen-Meditation ist die Übung, die Welt, um uns herum direkt wahrzunehmen, ohne sie gedanklich einzuordnen. Wir können als Menschen nicht aufhören zu denken, aber wir können unsere Gedanken als solche durchschauen und das unendliche Potenzial und die Schönheit der Leerheit erfahren.

Der zum Supermarkt und das Geschenk der Leere

Als ich die Zutaten, die ich zum Kochen brauchte, auf die Arbeitsplatte legte, merkte ich, dass eine wichtige fehlte. Gerade war ich noch beim Supermarkt und musste jetzt wieder hin. Ärgerlich. Was für eine Zeitverschwendung. Auf dem Weg erlebte ich jedoch einen wunderschönen Sonnenuntergang. Ein Geschenk, das es wohl nicht gegeben hätte, wenn die Zutat nicht gefehlt hätte.

Meine gedankliche Zuordnung des Geschehens war: Zeitverschwendung. Es entpuppte sich jedoch als keine Zeitverschwendung, sondern etwas anderes. In diesem Fall einen wunderschönen Sonnenuntergang.

Auch kein ist nicht nichts

Das Herz-Sutra wird geprägt durch Verneinungen: Deshalb gibt es in der Leerheit keine Form, kein Empfinden, keine Wahrnehmung, keinen Antrieb, kein Bewusstsein …

Auch hier wird voreilig gedacht: Wenn es das alles nicht gibt, dann gibt es nichts, und das ist verständlicherweise nicht erstrebenswert. Doch auch kein bedeutet nicht nichts. Es gibt da sicherlich etwas, aber eben nicht das, was wir denken: keine Zeitverschwendung, sondern vielleicht einen wundervollen Sonnenuntergang, vielleicht aber die zufällige Begegnung mit einem Freund, den ich schon lange nicht gesehen habe, oder was die Leerheit sonst noch an Überraschungen in sich birgt.

Die Zen-Meditation ist die Übung, die gedankliche Scheinwelt zu durchschauen und die Potenzialität direkt zu erfahren. Schon nach einigen Wochen regelmäßiger Meditation, war es, als ob meine Vorstellungen transparenter wurden und ich viel direkter erfahren konnte – eine Welt, mit viel mehr Geschenke, als ich dachte und die ich denkend wohl nicht erfahren konnte. Das Herz-Sutra lädt uns dazu ein, durch unsere Vorstellungen hindurch zu sehen, damit aus einer langen und langweiligen Zugfahrt eine Traumreise durch eine wundervolle Landschaft werden kann, die sich in jeder Jahreszeit von einer anderen Seite zeigt.


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Leonne Boogaarts, Gründerin und Zen-Lehrerin von Zen-Meditation Berlin

Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin

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