Im Grunde hatte sie ja recht und im Nachhinein tut es mir auch leid. Ich hätte ihr das so nicht vorwerfen und meine Wörter mit mehr Bedacht wählen sollen. Die verletzenden Worte waren jedoch schon ausgesprochen, bevor mir wirklich bewusst wurde, was ich da genau sagte. Ich versuche, sie anzurufen, um mich zu entschuldigen, aber sie nimmt das Gespräch nicht entgegen. Wie immer nehme ich mir fest vor, das nächste Mal weniger impulsiv zu reagieren.

Dazu habe ich die Gelegenheit, wenn ich der Einladung zu einem Dinner in einem gehobenen Restaurant folge. Ich nehme mir vor, mich besonnen zu verhalten. Ich sitze da, lächle freundlich, halte mich zurück und gebe nur noch irgendwelche Floskeln von mir. Es ist anstrengend, denn der Impuls, einfach so zu sein, wie ich sein will, kommt immer wieder hoch. Ich schaue auf die Uhr, wann ich mich endlich verabschieden kann. Ich habe zwar niemanden verletzt und mich nirgends angeeckt, aber ein gelungener Abend war es trotzdem nicht.
Impulsives Benehmen führt zu Fehlverhalten und ungewollten Ergebnissen, aber die Besonnenheit ist keine richtige Alternative dazu, denn sie wirkt distanziert und unauthentisch, und ist kaum durchzuhalten. Wie löse ich dieses Dilemma? Das untersuche ich in diesem Artikel.
Impulsivität: Lebensretter oder Echo alter Muster?
Unsere Impulsivität ist keine charakterliche Schwäche, sondern ein wichtiger Überlebensmechanismus. Wenn du versehentlich die Hand auf eine heiße Herdplatte legst, ist deine sofortige, impulsive Reaktion, die Hand zurückzuziehen. Würden wir erst rational überlegen, was zu tun ist, wären schwere Brandwunden die Folge. In solchen Momenten ist der Impuls unser bester Freund, ein innerer Wächter, der uns vor Schaden bewahrt.
Impulse können jedoch auch hinderlich sein, und zu brenzligen Situationen führen. Für das Überleben unserer Vorfahren war es entscheidend, Nahrung und Ressourcen zu sammeln. Heute spiegelt sich dieser Impuls in der Freude wider, die wir beim Shopping empfinden, auch wenn wir Dinge kaufen, die wir gar nicht wirklich brauchen. Der Impuls kann so stark sein, dass uns unsere Kaufsucht in den Ruin führt.
Spontaneität als Alternative?
Die Spontaneität könnte hier die Alternative sein, die jenseits der beiden unbefriedigenden Extreme von Impulsivität und Besonnenheit liegt. Sie ist nicht die impulsive Reaktion, die reaktiv, unüberlegt und von alten Ängsten gesteuert ist. Sie ist auch nicht die kontrollierte, besonnene Reaktion, der anstrengende, unauthentische Versuch des Verstandes, die Impulse zu unterdrücken.
Stattdessen ist Spontaneität die fließende und freie Handlung, die aus der Intuition und einem tiefen Gespür für den Moment entsteht. Sie ist weder reaktiv noch unterdrückt. Es ist die authentische Antwort, die aus einem klaren Geist kommt, befreit von den instinktiven Ängsten des Egos und den besonnenen Konventionen der Gesellschaft. Das hört sich schon mal gut an.
Zen und Spontaneität
Die Welt des Zen ist reich an Geschichten, in denen spontane und überraschende Verhaltensweisen den Geist dieser reichen Tradition illustrieren.
Wie die vom Zen-Meister Nan-in, der eines Tages von einem Professor besucht wird, der sich über Zen erkundigen will. Statt jedoch Fragen zu stellen, präsentierte der Gelehrte stolz sein eigenes, umfangreiches Wissen. Nan-in hörte ihm geduldig zu und servierte währenddessen schweigend Tee. Er goss die Tasse des Professors voll, und als sie bereits überlief, goss er ungerührt weiter. „Halt!“, rief der Professor schließlich ungeduldig. „Die Tasse ist voll! Es passt nichts mehr hinein!“ Daraufhin antwortete Nan-in gelassen: „Wie diese Tasse sind auch Sie voll von Ihren eigenen Meinungen und Spekulationen. Wie soll ich Ihnen Zen zeigen, wenn Sie nicht zuerst Ihre Tasse leeren?“
Oder die Geschichte von Lingzhao, der Tochter des Laien Pang, die ihrem gestürzten Vater nicht aufhilft, sondern sich mitfühlend neben ihn fallen lässt. Wenn der Vater sie fragt, was sie tut, antwortet sie ihm: Ich sehe Vater fallen, also helfe ich. Worauf er antwortet: Gut, dass keiner zuschaute. Eine Geschichte, die noch heute in vielen Zenschulen besprochen wird.
Moderner ist die Geschichte über Sister Chân Không, die engste Vertraute von Thích Nhất Hạnh. Sie befand sich auf einer anstrengenden Reise zum Europäischen Parlament, um bei Politikern und Diplomaten Unterstützung für die Buddhisten in Vietnam zu gewinnen. Sie war überzeugt: Wenn es ihr gelänge, diese Menschen für die Wahrheit des gegenwärtigen Moments zu öffnen, wüssten sie von selbst, wie sie helfen könnten. Mitten in ihrem unerbittlichen Zeitplan betrat sie für eine kurze Pause ein elegantes Café. Doch anstatt sich an den Tisch zu setzen, legte sie sich quer auf die Fensterbank, schloss die Augen und begann mit einer achtsamen Atemübung.
Mut zur Spontaneität
Spontanität ist keine Garantie für Beliebtheit, sondern der Ausdruck innerer Freiheit. Es ist die Befreiung von der ständigen Sorge, einen guten Eindruck machen zu müssen oder sozial anerkannt zu werden. Die Handlungen von Nan-in, Lingzhao oder Sister Chân Không waren nicht darauf ausgelegt, Beifall zu ernten. Sie waren stimmig – eine unmittelbare, authentische Antwort auf die Realität des Moments, jenseits der sozialen Konventionen. Die wahre Spontanität liegt nicht darin, immer das Richtige zu tun, sondern darin, die Angst loszulassen, etwas Falsches zu tun.
Meine Freundin ruft mich zurück. Sie war einige Tage verreist und hatte ihr Handy ausgeschaltet. Sie hat viel nachgedacht über unser Gespräch und fand es im Nachhinein sehr aufschlussreich. Wir sollten bald mal wieder etwas zusammen unternehmen. Ich schlage spontan das Restaurant vor, in dem ich versuchte, mich besonnen zu verhalten. Und an diesem Abend haben wir beide sehr viel Spaß.
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Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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