Wie der Individualismus Leistungsdruck und Stress verstärkt
In unserer individualistisch geprägten Gesellschaft steht das Individuum im Mittelpunkt und genießt viele Freiheiten und Lebensgestaltungsräume. Das Loslösen einschränkender gesellschaftlicher und familiärer Strukturen wirft den Menschen jedoch auch auf sich selbst zurück. Wir sind zwar frei, wichtige Lebensentscheidungen selbst zu treffen, müssen jedoch auch allein mit den Konsequenzen klarkommen. Es heißt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer keinen Erfolg hat, ist selber schuld. Selbstoptimierung liegt daher im Trend. Wir arbeiten ständig daran, unsere Fähigkeiten zu verbessern und das perfekte Ich zu erreichen. Wer krank wird oder sozialen Abstieg erlebt, sieht die Schuld oft bei sich selbst
Unsere moderne Welt ist geprägt von Autonomie und Selbstständigkeit des Individuums. Von klein auf lernen wir, dass wir selbst für unsere Erfolge und Misserfolge verantwortlich sind. Dies führt nicht nur zu einem ständigen Leistungsdruck und Stress, sondern verstärkt auch das Gefühl, ständig einen einsamen Existenzkampf führen zu müssen.
Die Folgen des Hyperindividualismus
Vor kurzem sah ich zwei Frauen an einem Tisch im Café, beide vertieft in ihre Handys. In der U-Bahn sehe ich fast nur noch Menschen, die auf ihre Geräte schauen. Jeder lebt für sich hinter seinem eigenen Bildschirm. Der Individualismus hat sich zu einem Hyperindividualismus entwickelt, der die Einsamkeit und Leistungsdruck weiter verstärkt.
In den letzten Jahren sind Stress, Burn-outs und psychische Probleme deutlich angestiegen. Obwohl die Ursachen divers sind, wurzeln sie doch oft in dem fehlenden Rückhalt aus Familie und Gemeinschaft in einer individualistisch geprägten Gesellschaft. Laut dem Gesundheitsreport 2023 der Techniker Krankenkasse leidet mittlerweile jeder vierte Erwachsene in Deutschland an stressbedingten Symptomen. Burn-out ist längst keine Ausnahme mehr, sondern ein weit verbreitetes Phänomen, das immer mehr Menschen betrifft.
Wir sind Teil eines größeren Ganzen
Obwohl die eigene Leistung eine wichtige Rolle in Bezug auf Bildung, Karrierechancen, Zufriedenheit und Lebenserwartung spielt, dürfen die Einflüsse von sozialer Herkunft, Umwelt, Familie und Freundeskreis nicht unterschätzt werden. Für Menschen, die aus schwierigen Verhältnissen stammen, ist die Betonung der individuellen Leistung als Maßstab für den eigenen Erfolg eine Zumutung. Im Wettlauf um sozialen und wirtschaftlichen Erfolg klaffen die Startbedingungen nach wie vor weit auseinander.
Das Bewusstsein darüber kann den individuellen Leistungsdruck und den damit verbundenen Stress lindern. Wir können jeden Tag unser Bestes geben und darauf hoffen, erfolgreich zu sein. Letztlich hängt dieser Erfolg jedoch von vielen Faktoren ab, die wir nicht alle beeinflussen können.
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Wenn das Schicksal zuschlägt
Persönliche Faktoren können wir als Individuen beeinflussen, gesellschaftliche Ungleichheiten können wir als Gesellschaft ausgleichen, aber wir sind oft wehrlos gegen die Schicksalsschläge. Wir wähnen uns in Sicherheit dank einer Festanstellung, aber stehen dann doch mit leeren Händen da, wenn die Firma pleitegeht. Wir stehen mitten im Leben und bekommen plötzlich eine schlimme Diagnose, die alles auf den Kopf stellt. In der Familie scheint alles in Ordnung, bis der Ehepartner plötzlich andere Wege geht. Die Tochter bereitet sich auf eine erfolgreiche Zukunft vor, doch wird sie überfallen und erleidet ein Trauma. Immer wieder treffen uns Schicksalsschläge, die uns aus der Bahn werfen. Selbst mit aller Vorsorge und den besten Entscheidungen stehen wir letztlich oft machtlos vor dem, was das Schicksal bringt. Und kein wohlwollender Gott eilt uns zur Hilfe und nimmt sich unsere Sorgen an.
Der andere Blick: das autonome Ich als Illusion
In unserem individualistischen Weltbild betrachten wir uns in erster Linie als autonome Individuen, die als solche Beziehungen eingehen. Wir können uns jedoch auch als Teil eines größeren Beziehungsnetzes verstehen, das unser individuelles Selbst maßgeblich beeinflusst. Diese Sichtweise entspricht dem zen-buddhistischen Konzept des Einheitsbewusstseins.
In diesem Konzept wird die Vorstellung des autonomen Ichs als Illusion betrachtet, die Stress, Angst und Einsamkeit erzeugen kann. Diese Wahrnehmung des Ichs als Alleinkämpfer führt zu dem Gefühl, auf uns selbst zurückgeworfen zu sein, während das Leben außerhalb von uns stattfindet – etwas, das wir kontrollieren, erobern oder ständig verteidigen müssen. Diese Haltung erzeugt eine Weltsicht, die uns fremd und oft bedrohlich erscheint.
- mehr Ruhe
- weniger Stress
- besser schlafen
- besser fühlen
- mehr Konzentration
- besser zuhören
- weniger störende Emotionen
- mehr Energie
Das Einheitsbewusstsein: das Ich durchschauen
Im Zustand des Einheitsbewusstseins durchschauen wir diese Illusion der Trennung. Man erkennt, dass man nicht allein gegen den Strom schwimmen muss, sondern Teil eines größeren, miteinander verbundenen Ganzen ist. Diese Erfahrung der Verbundenheit wirkt beruhigend und befreiend, da sie den Leistungsdruck reduziert und das Gefühl der Isolation auflöst. Man fühlt sich als Teil von etwas Größerem – sei es die Gemeinschaft, die Natur oder das Universum.
Dabei sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass das Ich als Teil dieses Netzwerks weiterhin verantwortlich dafür ist, sein Leben so gut wie möglich zu führen. Im Einheitsbewusstsein hört die Verantwortlichkeit jedoch nicht beim Individuum auf. Im Bewusstsein, dass unser Handeln auch das große Ganze beeinflusst, tragen wir eine Verantwortung, die weit über die das eigene Leben hinausgeht.
Das autonome Ich: ein Produkt der Kognition
Das Bild, das wir von uns und dem Leben haben, entstammt unserem kognitiven Denken. Auch die Vorstellung eines autonomen Ichs, das vom Rest des Lebens getrennt ist, ist ein Produkt dieses Denkens. Die Kognition verarbeitet Informationen aus der Umgebung zu Wissen, das uns hilft, Probleme zu lösen und uns an verändernde Gegebenheiten anzupassen. Sie sichert unser Überleben und hat uns zu Wohlstand verholfen.
Die kognitiven Vorstellungen stehen jedoch zwischen uns und der Welt. Wenn wir unsere Vorstellungen von der Realität mit der Realität selbst verwechseln, entstehen Probleme wie Hyperindividualismus, Vernachlässigung der Gemeinschaft und Zerstörung der Umwelt. Wir sehen die Welt zu fragmentiert und analytisch, sodass wir das große Ganze aus dem Blick verlieren. Die Meditation hilft uns, die Welt wieder unmittelbar wahrzunehmen und als Ganzheit zu verstehen.
Die Kognition während der Meditation herunterfahren
Bei Zen-Meditation Berlin konzentrieren wir uns während der Meditation auf unsere Atmung und lassen unsere Gedanken vorbeiziehen, ohne ihnen Bedeutung beizumessen. Auf diese Weise fahren wir unser kognitives Denken herunter und schaffen Raum für eine unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit, ohne dass unsere Vorstellungen dazwischenfunken. Es braucht Übung, um diese Fähigkeit zu entwickeln, aber sie verschafft uns wieder Zugang zu einer direkten Erfahrung der Wirklichkeit. Dieser unverstellte Blick auf die Welt lässt uns die universelle Verbundenheit aller Dinge erkennen – eine tiefe Einsicht, die das kognitive Denken uns nicht vermitteln kann. Bei mir führte eine solche Erleuchtungserfahrung zu einer grundlegend anderen Lebenshaltung und zur Gründung meiner Zenschule Zen-Meditation Berlin.
Zen ist die Kunst, zu denken, was du denken willst. Mehr über dieses inspirierende Buch erfährst du hier.
Die Wirkung des Einheitsbewusstseins
Die Erfahrung des Einheitsbewusstseins relativiert die Wichtigkeit des Egos samt seiner Isolation, Ängste und Getriebenheit. Sie schafft Raum für mehr soziale Verantwortung, Mitgefühl sowie eine tiefere Verbundenheit mit anderen und der Umwelt. Man fühlt sich getragen und unterstützt, anstatt ständig kämpfen oder sich verteidigen zu müssen.
Die Meditation ermöglicht es uns, direkt in diese Erfahrung einzutauchen und die Ketten des ständigen Gedankenkreisens zu lösen. Mit jedem Atemzug kommen wir uns selbst näher, erfahren Freiheit von den ständigen Anforderungen des Egos und öffnen uns für die Schönheit des gegenwärtigen Moments. Diese tiefe innere Verbundenheit gibt mir die Kraft, den Herausforderungen des Lebens mit mehr Gelassenheit zu begegnen und das Leben zu führen, das ich führen möchte. Indem wir unser Selbstbild loslassen, entdecken wir das Leben in seiner ganzen Fülle – direkt und lebendig.
Die Einheit zwischen Ich- und Einheitsbewusstsein
Als Menschen sind wir autonome Individuen mit eigenen Freiheiten, Gestaltungsfreiräumen und Verantwortungen. Wir sind jedoch auch Teil einer größeren, zusammenhängenden Wirklichkeit. Es ist wichtig einzusehen, dass wir beide Pole des Seins umfassen und in unserem Bewusstsein verankern, damit wir flexibel auf die Situationen reagieren können, in denen wir uns befinden. Die Zen-Praxis ist eine ständige Übung mentaler Flexibilität und eine tiefe Einsicht in das Wesen der Dinge.
Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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