Von Leonne Boogaarts
Die Kunst des Dazwischenseins
Obwohl das Leben immer in Bewegung ist, wechseln sich Phasen der relativen Stabilität und Routine mit Phasen schneller und manchmal auch tiefgreifender Veränderungen ab. Gegenwärtig durchleben wir eine Zeit der tiefen Veränderungen, geprägt von gleichzeitig auftretenden Krisen, wie Klimawandel, wirtschaftlichen Verschiebungen, geopolitischen Spannungen und einer oft mühsamen politischen Zusammenarbeit der etablierten politischen Akteure.

Diese Übergangsphasen, die Anthropologen „Liminalität“ nennen, sind geprägt von Unsicherheit: Das Alte ist vorbei, das Neue hat noch keine Form angenommen. Sie sind oft beunruhigend, aber essenziell für Wachstum und Entwicklung. Ein historisches Beispiel für eine solche Phase war der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, der mit viel Unruhe verbunden war. Auch der aktuelle Wandel hin zur digitalen Gesellschaft verläuft nicht ohne Reibungsverluste.
Ebenso kennt unser persönliches Leben solche Zwischenphasen. Zum Beispiel, wenn man nach einer Kündigung einen neuen Job sucht oder sich von einer Krankheit erholt. Viele Veränderungen und die damit einhergehenden Zwischenphasen treffen uns ungewollt. Aber auch selbst gewählte, freiwillige Veränderungen – wie eine Heirat oder die Geburt eines Kindes – kennen diese Phasen der Eingewöhnung, in denen man erst in die Rolle des Partners oder der Eltern hineinwachsen muss. Auch hier dient die Liminalität dem Wachstum.
Dazwischensein ablehnen oder umarmen?
Oft empfinden wir diese Zwischenzeit als bedrohlich, da sie unsere Sicherheiten erschüttert und unser Gefühl von Kontrolle untergräbt. Wir sehnen uns zurück nach den „alten Zeiten“, die wir dann oft idealisieren, und möchten den alten Status quo am liebsten wiederherstellen. Oder wir verlangen zumindest sofortige Klarheit darüber, wohin die Reise geht. Aber was wäre, wenn wir diese Phasen nicht ablehnen, sondern umarmen würden?

In der japanischen Kultur gibt es dafür ein tiefgründiges Konzept: Ma (間) ↗. Ma bezeichnet den Zwischenraum – nicht als leere Abwesenheit, sondern als einen geladenen Raum voller Potenzial. Es ist die Stille zwischen den Musiknoten, die Pause zwischen zwei Tätigkeiten oder die Zeit, die nötig ist, damit wir in einer neuen Rolle ankommen können. Ma lehrt uns, dass das Dazwischensein keine verlorene Zeit ist, sondern ein kreativer Moment oder eine kreative Phase, in der Neues entstehen kann. Es ist keine Zeit, die wir aussitzen, ablehnen oder uns gar dagegen widersetzen sollten. Wir könnten sie umarmen und ihre kreative Energie spüren.
Ma als Schlüssel für liminale Phasen
Wenn wir liminale Phasen – persönlich wie gesellschaftlich – als „Ma-Momente“ betrachten würden, anstatt sie zu fürchten, könnten wir sie sehen als:
- Eine Einladung zur Offenheit: Statt uns die alten Zeiten zurückzusehen, könnten wir neugierig abwarten, was da auf uns zukommt.
- Eine Quelle der Kreativität: In der Unsicherheit liegen Möglichkeiten, die wir in stabilen Zeiten oft übersehen.
- Eine Übung im Vertrauen: Manchmal ist es besser, ruhig abzuwarten, als vermeintliche Sicherheiten zu erzwingen.
Nehmen wir eine gesellschaftliche Krise: Sie erschüttert uns, bietet aber auch die Chance, alte Systeme zu überdenken und neue Verhältnisse zu schaffen. Oder denken wir an einen persönlichen Übergang wie Arbeitslosigkeit: Statt diese Periode als „Loch“ im Lebenslauf zu empfinden, kann man sie als Zeit der Neuorientierung sehen, in der man entdeckt, was wirklich zu einem passt.
Die Praxis: Mehr Ma im Alltag
Um die Philosophie des Ma anzuwenden, fängt man am besten klein an:
- Die Zwischenphase anerkennen: Benenne es für dich selbst: „Dies ist ein Ma-Moment.“ Allein das verringert schon den Drang, das Unbehagen zu verdrängen.
- Raum für Stille lassen: Genau wie in einem Gespräch, wo die Stille zwischen den Worten die Verbindung vertieft, kannst du in Übergangsphasen bewusst pausieren, statt Dinge zu erzwingen.
- Neugierig bleiben: Frage dich: Was kann hieraus entstehen? Anstatt: Wie komme ich hier so schnell wie möglich durch?
In den Kursen von Zen-Meditation Berlin geben wir dem Ma bewusst Raum. Bevor wir beginnen, nehmen wir uns einen Moment der Stille, um den Tag hinter uns zu lassen und wirklich im Zendo anzukommen. Wir geben einander Raum, um auszusprechen. Und bei der abschließenden Teezeremonie warten wir ruhig, bis jeder seinen Tee getrunken hat, bevor wir die Zeremonie beenden.
Ein neuer Blick auf Veränderung
Liminalität und Ma erinnern uns daran, dass Veränderung keine Unterbrechung ist, sondern die Essenz des Lebens. Indem wir das Dazwischensein nicht vermeiden, sondern bewusst durchleben, verwandeln wir Unsicherheit in eine Quelle von Weisheit und Wachstum. Wenn du also das nächste Mal in einer Zwischenphase landest – sei es durch eine persönliche Veränderung oder eine gesellschaftliche Krise –, frage dich: Was, wenn das kein Hindernis ist, sondern ein Ma-Moment? Vielleicht entdeckst du, dass das Leben gerade in diesem Raum atmet und weiterwachsen kann.
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Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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