Im Zen-Buddhismus spielt das „Im-Moment-Seins“ eine wesentliche Rolle. Meditation, Rituale und andere Zen-Praktiken zielen darauf ab, den Moment für sich zu erschließen. In meinem vorigen Artikel schrieb ich über mein ständiges Üben, im Moment zu sein, und die Erkenntnisse, die ich daraus gewinnen konnte. Als Zen-Lehrerin ist es mir wichtig zu betonen, dass es beim „Im-Moment-Sein“ nicht um einen mystischen Zustand geht. Grundsätzlich ist jeder immer im Moment.
Ablenkung
Wir nehmen das, was im Moment passiert, jedoch oft kaum wahr, weil wir mit unseren Gedanken ganz woanders sind. Wir können am Strand liegen und den Wellen beim Rollen zuschauen und uns trotzdem gedanklich in einer stressigen Situation befinden, wenn wir daran denken, dass der Urlaub schon bald wieder vorbei ist und uns zu Hause der Alltagsstress erwartet. Genauso wie wir uns auf dem Heimweg von der Arbeit in einem übervollen Bus nach unserem nächsten Urlaub sehnen und uns vorstellen, wir lägen am Strand und würden den Wellen beim Rollen zuschauen. Wir sind oft oder sogar meistens nicht im Moment und lassen das Leben unbemerkt an uns vorbeiziehen. Das „Im-Moment-Sein“ kann man jedoch üben, um das Leben in seiner ganzen Fülle zu erleben.
- mehr Ruhe
- weniger Stress
- besser schlafen
- besser fühlen
- mehr Konzentration
- besser zuhören
- weniger störende Emotionen
- mehr Energie
Den Moment wahrnehmen
Wir verfügen über fünf Sinne, um den Moment wahrzunehmen: Gehör, Geruch, Geschmack, Gesicht und Gefühl. Am Strand fühlen wir die Wärme der Sonne auf der Haut, im Bus, wie andere uns berühren, wenn sie sich an uns vorbeidrängen. Wir hören die Wellen oder die Ansage der nächsten Haltestelle. Unsere Sinne haben ihre Begrenzungen. Wir können ganz kleine Objekte, subtile Gerüche oder bestimmte Geschmacksnuancen nicht wahrnehmen. Wir können unsere Wahrnehmung jedoch trainieren und verfeinern. Der Musiker, der sich tagtäglich intensiv mit Musik beschäftigt, hört viel mehr in einer Symphonie als Ungeübte. Und ein Spitzenkoch wird einen verfeinerten Geschmack entwickelt haben, als jemand, der sich am liebsten Pommes gönnt. Die wichtigste Ursache, warum uns vieles entgeht, ist jedoch, dass wir mit den Gedanken woanders sind und das, was im Hier und Jetzt passiert, gar nicht bewusst wahrnehmen.
Dein Jetzt-Bewusstsein mit Zen trainieren
Die Zen-Meditation ist ein Bewusstseinstraining, in dem wir üben, auch mit unseren Gedanken im Hier und Jetzt zu sein, damit wir es in seiner Fülle wahrnehmen können: den angenehmen Wind, die vorbeifahrenden Autos, die Menschen, denen wir begegnen, das Klopfen unseres Herzens oder den Duft der Blumen. Dabei nehmen wir auch unsere Gedanken wahr. Wenn wir im Moment sein wollen, halten wir diese Gedanken jedoch nicht fest, sondern lassen sie vorbeiziehen, wie die Autos, die an uns vorbeifahren. Wir können den aufkommenden Gedanken an das schwierige Gespräch morgen mit der Chefin nicht verhindern und versuchen es erst gar nicht. Indem wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf dem richten, was im Moment wichtig ist, lassen wir den Gedanken wieder los. Dieses Wahrnehmen, ohne festzuhalten, üben wir unter anderem während der Sitzmeditation (Zazen).
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Sitzmeditation: Zazen
Während der Sitzmeditation sitzen wir still und zählen unsere Ausatmungen von eins bis zehn, um danach wieder bei eins anzufangen. Es ist ganz natürlich, dass wir von den Geräuschen in der Umgebung sowie von aufkommenden Gefühlen und Gedanken abgelenkt werden. Wir bemerken diese Ablenkung, weil wir nicht mehr zählen. Wir nehmen die Ablenkung und das, was uns ablenkt, wahr und richten unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Zählen der Ausatmungen. Wir ärgern uns nicht darüber, dass wir wieder einmal abgelenkt sind, aber wir verfolgen den Gedanken nicht weiter. So üben wir, unsere Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was jetzt wichtig ist, und verbessern damit unsere Konzentrationsfähigkeit, die uns bei der Arbeit, beim Lesen eines Buches oder beim Zuhören anderer Menschen zugutekommt. Auch in diesen Situationen merken wir immer wieder, dass wir abgelenkt werden, nehmen die Ablenkung wahr und richten unsere Aufmerksamkeit wieder auf das, was wir gerade machen. Auf diese Weise eroberst du den Moment immer mehr für dich.
Die Teezeremonie
In den Kursen von Zenbogen führen wir nach der Sitzmeditation eine einfache Teezeremonie durch. Während der Sitzmeditation lenkten wir die Aufmerksamkeit nach innen auf unseren Atem. Bei der Teezeremonie lenken wir die Aufmerksamkeit wieder auf das, was um uns herum passiert. Wir nehmen das Teeglas, wenn es uns angereicht wird, und halten es hoch, damit der Tee eingeschenkt werden kann. Wir warten, bis alle wieder sitzen, und nehmen dann unser Teeglas, um in Stille unseren Tee zu trinken. Wir warten, bis alle leergetrunken haben, und setzen das Teeglas wieder auf den Boden. Mit unserem durch die Meditation geschärften Bewusstsein schmeckt der Tee doppelt so gut. Auch dieses Ritual dient dem Bewusstseinstraining und dem Schärfen unserer Wahrnehmung, damit wir auch im Alltag bewusster wahrnehmen, was um uns herum passiert.
Mentale Flexibilität
In den Kursen von Zenbogen üben wir, unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das zu lenken, worauf wir uns fokussieren möchten. Auch wenn wir uns auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren, verschließen wir uns nicht vor dem, was sonst noch um uns herum passiert. Wer sich darin übt, die Aufmerksamkeit flexibel zu steuern, kann sich an einem stressigen Arbeitsplatz auf das Lesen wichtiger Dokumente konzentrieren, aber auch die Aufmerksamkeit voll auf den Kollegen richten, der gerade Hilfe braucht, ohne sich über die Störung zu ärgern. Danach sind wir wieder imstande, uns erneut auf die Dokumente zu konzentrieren. Es macht natürlich auch Sinn, sich gelegentlich abzusondern und andere darum zu bitten, nicht gestört zu werden.
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Der unangenehme Moment
Wer die Fähigkeit des „Im-Moment-Seins“ beherrscht, leidet weniger unter Stress, ist produktiver und kann kreativer mit Situationen umgehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Moment immer angenehm ist. Es gibt schmerzhafte, traurige, bedrohende und ängstliche Momente. Das ist ganz natürlich, nur neigen wir dazu, diese Momente nicht wahrnehmen zu wollen. Wir wollen sie nicht spüren, sondern versuchen, sie schnell zu lösen, uns von unserer Traurigkeit oder unserem Schmerz abzulenken, oder davor wegzulaufen.
Auch während der Sitzmeditation werden wir manchmal von negativen Emotionen und Gedanken überfallen. In dieser Situation können wir nicht davon weglaufen, uns nicht ablenken und sind quasi gezwungen, uns ihnen zu stellen. Oft wirkt das befreiend, denn wir merken, dass ihr Einfluss auf unser Leben viel größer ist, wenn wir sie ignorieren, als wenn wir sie wahrnehmen und verarbeiten.
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Der zeitlose Moment
Üben, im Moment zu sein, bedeutet, immer voll da zu sein, statt gedanklich in der Vergangenheit hängenzubleiben und falschen Entscheidungen, nicht genutzten Chancen oder besseren Zeiten nachzutrauern. Wir warten nicht auf die Versprechen der Zukunft, wenn wir endlich die große Liebe oder den richtigen Job gefunden haben, und vermiesen uns den Moment auch nicht mit unseren Zukunftsängsten. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft noch nicht da – das Leben findet jetzt statt. Der Moment kennt kein Morgen oder Gestern, sondern nur das Jetzt.
Lehren ziehen und Pläne machen
Das bedeutet übrigens nicht, dass wir nicht aus unseren Erfahrungen lernen oder unsere Zukunft planen können. Diese Fähigkeiten helfen uns, gut durchs Leben zu kommen. Der Moment ist auch kein statisches Konzept, das sich klar von Vergangenheit und Zukunft abgrenzen lässt. Es ist ein zeitloses Konzept, das immer auch die Vergangenheit und Zukunft mit einschließt. Indem wir lernen, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was jetzt wichtig ist, können wir aus unseren Erfahrungen die für das Jetzt wichtigen Lehren ziehen und unsere Zukunft planen, wie wir es jetzt für richtig halten, ohne uns daran festzuklammern, wenn sich die Umstände ändern.
Den Moment erleben
Es geht nicht von heute auf morgen. Es braucht Übung, Zeit und Geduld, sich den Moment für sich zu erobern. In der Zen-Praxis trainieren wir unser Bewusstsein, damit es uns befähigt, ohne Ängste und Bedauern den zeitlosen Moment zu erleben. Während der Sitzmeditation und den anderen Zen-Praktiken lernen wir, uns den Geistern der Vergangenheit und der Zukunft zu stellen, ohne sie zu meiden, zu bedauern, zu bewerten oder zu verurteilen. Das gibt uns die Möglichkeit, uns mit ihnen anzufreunden, damit sie zu wertvollen Lebensgehilfen im Hier und Jetzt werden.
Leonne Boogaarts
Zen-Lehrerin und Gründerin von Zen-Meditation Berlin
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