Zen, Meditation und Wahrheit (2)

Im ersten Teil seines Essays schrieb Zen-Meister Rients Ran Zen über Wahrheit und Wirklichkeit sowie darüber im Buddhismus, im Christentum und in der Wissenschaft gedacht wird. Klicke hier, um Teil 1 zu lesen.

Dieser Artikel vom Rients Ran Zen ist eine Übersetzung aus dem Niederländischen und wurde ursprünglich im Blog ZenActueel von Zen.nl veröffentlicht.

Die Suche nach der Wahrheit

Seit Jahrhunderten suchen Philosophen nach der Wahrheit – doch gefunden haben sie sie nicht. Schon Sokrates stellte die Idee einer absoluten Wahrheit infrage und führte Debatten, die bis heute nachhallen. Laien hingegen beschäftigen sich weniger intensiv mit der Wahrheit, gehen jedoch oft davon aus, dass sie existieren muss. Im Diamant-Sutra sagt Buddha über die Wahrheit: „Wir nennen sie nur so.“ Zen-Meister hingegen greifen einfach zur Teetasse und trinken einen Schluck Tee, wenn man sie danach fragt.

In Zeiten zahlreicher Fake News gewinnt die Frage „Was ist Wahrheit?“ wieder an Bedeutung. Sie bleibt relevant, denn die Wahrheit zu erkennen, schenkt Ruhe und Einsicht – ähnlich wie das Meditieren.

Was ist Fakt und was ist Fake? Dieses Bild illustriert den Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung im Zen-Kontext. Das Wort 'Fakt' wird durch eine Korrektur ('T' durchgestrichen, 'E' hinzugefügt) modifiziert, um auf die Relativität von Wahrheiten hinzuweisen.

Weisheit in der Zen-Tradition und die Wissenschaftskrise

Huineng, einer der ersten Zen-Meister, drückte es so aus: „Die Fahne wird nicht vom Wind bewegt, und die Fahne verursacht auch nicht den Wind – nur der Geist bewegt sich.“ Wir haben Vorstellungen von der Wirklichkeit, doch die Wirklichkeit ist immer anders.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hingegen bemühen sich oft, uns glauben zu machen, sie würden die Wahrheit kennen. Gleichzeitig herrscht in vielen Bereichen der Wissenschaft eine sogenannte Replikationskrise: Die Mehrheit der Experimente außerhalb der exakten Naturwissenschaften erweist sich als nicht reproduzierbar. Dies zeigt, dass die Wissenschaft wenig oder nichts mit absoluter Sicherheit vorhersagen kann – bestenfalls liefert sie präzise Schätzungen dessen, was passieren könnte.

Wahrheitsdenken ist Machtdenken

Wie bereits im ersten Teil des Essays erläutert, ist die Vorstellung von der Wahrheit vor allem dann von großer Bedeutung, wenn es um Geld und Macht geht. Ich erwähnte dort die Wahrheitsansprüche der christlichen Kirche und der westlichen Wissenschaft. Doch auch in fundamentalistischen muslimischen Gemeinschaften, in denen Kirche und Staat eine Einheit bilden, wird die Interpretation der geistlichen Führer von Allahs Wahrheit als absolute Wahrheit angesehen. In der westlichen Welt missbrauchen Populisten die Wahrheit, indem sie emotionale Behauptungen als unumstößliche Fakten präsentieren – alles im Interesse ihrer Macht.

Eine Glocke in hellem Mintgrün läutet für wichtige Ankündigungen

Probiere Zen-Meditation in einer kostenlosen Probestunde
Klicke hier, um mehr zu erfahren!

Exklusive und subjektive Wahrheit

Wahrheit und Konflikte

Paradoxerweise führt der Gedanke, die Wahrheit zu kennen oder kennen zu können, nahezu unvermeidlich zu Unstimmigkeiten und Konflikten. Zwar existiert eine Realität, doch eine allgemeingültige und adäquate (prädiktive) Beschreibung dieser Realität – die absolute Wahrheit – gibt es nicht. Je vehementer behauptet wird, dass etwas der Wahrheit entspricht, desto stärker treten Gegensätze und Spannungen zutage.

Irgendwas muss doch die Wahrheit sein

Seit Jahrhunderten wird uns beigebracht, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt, die alle anderen Perspektiven ausschließt. Diese Vorstellung hat eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber alternativen Sichtweisen gefördert.

Zwar erkennen immer mehr Menschen, dass es die absolute Wahrheit nicht gibt, doch die Idee, dass auch keine alternative Wahrheit existieren könnte, verunsichert viele. In einer turbulenten Welt suchen sie nach einer Wahrheit, die ihnen als Anker von Ruhe und Sicherheit dienen kann.

Meditierender Buddha auf einem Steinsockel.
Die Wahrheit? Wir nennen sie nur so.

Objektive versus subjektive Wahrheit

Mit dem Verschwinden der Idee einer absoluten Wahrheit gerät für viele auch die Vorstellung von Sinn ins Wanken. Denn wenn nichts wahr ist, wofür lohnt es sich dann zu leben? Was ist der Sinn des Ganzen?

Die subjektive Wahrheit bietet in diesem Dilemma kaum eine Lösung. Die zunehmend verbreitete Idee, dass jede subjektive Vorstellung von der Realität gleichermaßen wahr sei, trägt ebenfalls nicht dazu bei, Orientierung oder Klarheit zu schaffen.

Die Wahrheit vom Arzt und seinen Patienten

Ärzte begegnen fast täglich Patienten, die ihre eigene „Wahrheit“ mitbringen. Immer häufiger verlangen Patienten ein Rezept für ein Medikament, das sie bei einer Internetrecherche entdeckt haben. Nach einer schnellen Google-Suche glauben viele, genauso gut oder sogar besser als der Arzt zu wissen, was sie brauchen. Doch ist das wirklich so?

Expertenwissen vs. Laienmeinung

Das Problem ist, dass man die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen kann: Nicht jeder Hausarzt ist stets auf dem neuesten Stand. Doch macht das die Meinung von Laien genauso wertvoll – oder sogar wertvoller? Die Antwort lautet: manchmal ja, aber meistens nein. In der Regel verfügt der Arzt oder die Ärztin dank fundierten Wissens, tieferer Einsicht und langjähriger Erfahrung über eine bessere Entscheidungsgrundlage.

Komplementäre Wahrheit

Deshalb plädiere ich für das, was ich die komplementäre Wahrheit nenne. Sie steht für die vielseitigste Sichtweise, die man auf einen Aspekt der Realität einnehmen kann. Phänomene der Wirklichkeit lassen sich besser verstehen, wenn man sie aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Dabei ist entscheidend, anzuerkennen, dass man nie alle Facetten vollständig kennen kann und dass jede aufrichtige Perspektive dazu beitragen kann, die Wirklichkeit klarer zu erfassen.

Abonniere den Newsletter!

Erhalte jede Woche Buch- und Filmempfehlungen, Infos über die neuesten Zen-Kurse in Berlin und neue Blogartikel direkt in deine Mailbox. Melde dich jetzt an und verpasse keine Neuigkeiten mehr.

Jede subjektive Sichtweise der Realität besitzt eine gewisse Gültigkeit. Doch wer dieselbe Realität aus mehreren Perspektiven betrachtet, gewinnt ein tieferes Verständnis als jemand, der sich ausschließlich mit einer Seite davon beschäftigt hat. Gleichzeitig kann auch die begrenzte Sichtweise eines Einzelnen wertvolle Impulse für ein umfassenderes Verständnis liefern.

Die Meinung eines Experten bietet in der Regel tiefere Einsichten als die eines Laien. Dennoch ergänzen sich die Perspektiven von Laien und Experten oft auf bemerkenswerte Weise – beide können voneinander lernen und so zu einem umfassenderen Verständnis beitragen.

Meditieren und die Wahrheit

Beim Meditieren versuchen wir, uns auf das Zählen des Atems oder ein Koan zu konzentrieren, doch das fällt uns oft schwer. Immer wieder drängen sich ablenkende Gedanken auf. Das ist jedoch kein Problem, denn diese Gedanken helfen uns, unverarbeitete Erfahrungen zu reflektieren. Während der Meditation tauchen Gedanken auf, die wir aus einer neuen Perspektive betrachten können. Dabei entdecken wir – manchmal bewusst, oft unbewusst – andere mögliche Sichtweisen auf unsere Erlebnisse.

Man könnte sagen, dass beim Meditieren die linke und die rechte Gehirnhälfte, Verstand und Gefühl, miteinander in Kontakt treten und ihre Sichtweisen austauschen. Dieser Austausch ermöglicht ein ganzheitlicheres Verständnis unserer Erfahrungen. Indem wir unseren Blick auf die Realität erweitern, fördert Meditation ein tieferes Verständnis der komplementären Wahrheit.

Rients Ritskes, der eine Brille und ein weißes Hemd trägt.

Zen-Meister und Gründer von Zen.nl

Hast du Fragen zum Artikel, möchtest du etwas kommentieren oder einfach mehr über Zen erfahren? Schreib uns eine E-Mail 📧– wir freuen uns auf deine Nachricht und antworten dir gerne.😊